1. Mai 2012, 18:30 Uhr, Palladium Stage Theater, Stuttgart
Endlich! Der von Anfang an designierte Hausherr von Manderley, Jan Ammann, ist nunmehr auf dem düsteren, geheimnisumwobenen Cornwall-Anwesen eingezogen.
Rückblende auf den 1. August 2011: Für das finale Casting der vor einem Jahr am heißesten begehrten männlichen Hauptrolle im deutschsprachigen Musical Business (vor der Rocky-Mania) versammeln sich in Stuttgart sieben der renommiertesten Musicaldarsteller, die Créme de la Créme des Genres, vor der aus acht Kreativen (darunter Autor, Komponist, Regisseur und musikalischer Leiter) bestehenden Jury. Und das Voting fällt eindeutig und einstimmig zugunsten von Jan Ammann aus. Alle sind sich einig: Das ist er, unser Maxim! Große Freude beim Künstler, aber auch ein Terminproblem: Der Probenbeginn für die am 8. Dezember angesetzte „Rebecca“-Premiere fällt genau in den Zeitraum, in welchem der Sänger als Solist mit seinem ersten eigenen Programm und als Mitglied der Musical Tenors auf Tournee ist.
Zwickmühle. Einerseits die einmalige Gelegenheit, bei einer großen Deutschland-Premiere als prägende Erstbesetzung dabei zu sein. Andererseits die schon längerfristig geplanten und terminierten Konzerte, ein Herzensanliegen.
Als Lösung wurde interimsmäßig Thomas Borchert für die Rolle des Maxim de Winter verpflichtet, dieser vollführte den Spagat, die Rolle sowohl in St. Gallen als auch im Palladium Theater Stuttgart zu interpretieren. Mit logischerweise unterschiedlichen Spielpartnern an zwei unterschiedlichen Spielstätten, abweichenden Bühnendimensionen usw. Eine formidable Leistung.
Der Inhalt des Stücks dürfte hinreichend bekannt sein – im Stenogrammstil: Junges Mauerblümchen („Ich“) weilt als Gesellschafterin einer schrill-peinlichen amerikanischen Millionärin in Monte Carlo – trifft dort auf den zwar anziehenden aber von einem dunklen Geheimnis umgebenen Adligen Maxim de Winter – das ungleiche Paar heiratet überstürzt – bei der Ankunft auf dem de Winter’schen düsteren Anwesen Manderley in Cornwall schlägt der neuen Ehefrau des Hausherrn unverhohlene Ablehnung, insbesondere der gestrengen Haushälterin Mrs. Danvers, entgegen – überall weht noch der Geist der vor einem Jahr unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommenen und von Mrs. Danvers verehrten mondänen ersten Mrs. de Winter, Rebecca – die Umstände ihres Todes kommen ans Licht – Maxim wird des Mordes an seiner Frau verdächtigt – das frischvermählte Paar wird auf eine harte Probe gestellt.
Ein „Krimi-Musical“ also – etwas Neues auf deutschen Musiktheater-Bühnen.
Nun aber der 1. Mai. Premiere von Jan Ammann und der vom bisherigen Cover nun zur Erstbesetzung der „Ich“ aufgerückten Valerie Link. Diese hat ihrem Kollegen bereits eine fünfmonatige Spielpraxis voraus. Jan Ammann absolvierte eine intensive dreiwöchige Probenzeit, in der er sechsmal die Woche von 13:00 bis 22:00 Uhr seine neue Hauptrolle einstudierte. Die vierte Probenwoche diente dann dazu, mit seinen unterschiedlichen Kollegen im Stück (Erst-, Zweit- und Drittbesetzungen) die jeweiligen gemeinsamen Sequenzen zu festigen. Und dann war schon rasch Ende April gekommen und die Premiere am 1. Mai stand bevor.
Die Besetzungsliste für diesen Premierentag zeigt, dass mit Ausnahme der Darstellerin der Mrs. Danvers (diese wurde alternierend von Femke Soetenga interpretiert) alle First Cast Darsteller an Bord sind.
Im Publikum viele Fans sowie Familie und Freunde der Darsteller.
Zu Valerie Link: Die sympathische Künstlerin tritt in große Schuhe, denn ihre Vorgängerin Lucy Scherer füllte die Rolle der anfangs sehr unbedarften, scheuen, ja geradezu unsicher-hilflos wie ein eben aus dem Nest gefallenes Vögelchen wirkenden „Ich“ grandios aus. Indes – Valerie Link überzeugt vollends. Insbesondere gefällt sie außerordentlich im zweiten Teil, wenn ihr Spielcharakter aufgrund der dramatischen Geschehnisse an Reife und Stärke gewinnt. Intensiv in Erinnerung bleiben ihre ausdrucksstarken und mit sicherer Stimme dargebotenen Duette mit Femke Soetenga (Mrs. Danvers) bei der Rebecca-Reprise – Nur ein Schritt und beim packenden Mrs. de Winter bin ich. In den Spielszenen und Duetten mit ihrem neuen Bühnen-Ehemann Jan Ammann wird deutlich, dass die Chemie zwischen den beiden erfreulicherweise stimmt.
Jan Ammann hat bereits vor Längerem erklärt, dass die Figur des Maxim de Winter eine seiner absoluten Traumrollen sei. Und wenn man den bislang überaus geradlinigen und klug geplanten Karriereweg des Künstlers betrachtet, mit den Hauptrollen bei „Ludwig2“, „Die Schöne und das Biest“, „Jekyll & Hyde“ und letztlich Graf von Krolock in „Tanz der Vampire“, dann ist die männliche Hauptrolle in „Rebecca“ für sein Stimmfach eine logische Konsequenz – fehlt dann nur noch das „Phantom“.
Zurück zum Stück: Man kann nicht umhin, begeistert zu konstatieren, dass Jan Ammann ein wahrhaft umwerfender Maxim ist. Er muss bei der Monte Carlo Szene, bei welcher er erstmalig in weißem Anzug und passendem Hut die Bühne betritt, noch gar nichts sagen oder geschweige denn singen, und schon zieht er aufgrund seiner bloßen Erscheinung sämtliche Augenpaare unweigerlich auf sich. Dass er neben einem beeindruckenden Stimmumfang auch über eine sehr männlich-markante und extrem wohlakzentuierte und höchst verständliche Sprechstimme verfügt, ist der Sache überaus dienlich. In den ersten zehn Minuten auf der Bühne bewältigt er seinen Text ohne den kleinsten Fehler, jedoch geringfügig zu schnell, sprich das Timing sitzt noch nicht hundertprozentig – was aber auch bei einer Premiere ein Wunder wäre. Mimik und Gestik passen bereits sehr gut, seine in ihm aufwallenden Gefühle, welche die unverstellte „Ich“ bei ihm auslösen, ringen mit seinen dunklen Erinnerungen eine andere Dame betreffend, dieser Zwiespalt ist überaus anrührend nachvollziehbar dargestellt.
Soweit, so gut. Dann aber passiert es. Nein – kein Fehler, kein Texthänger, nichts dergleichen. Sondern Herr Ammann beginnt zu singen. Und vom ersten gesungenen Ton an „hat“ er das gesamte Publikum. Während bei Zauberhaft natürlich und im Duett mit seiner „Ich“ Hilf mir durch die Nacht noch sein samtig-warmer und doch so kraftvoller Bariton gefühlvoll diese Balladen intoniert, ändert sich dies schlagartig bei seiner ersten großen Arie.
Mit zwingend präsentem Schauspiel fegt er bei dem Titel Gott warum in einer Intensität über die Bühne, dass man nur noch den Atem anhalten kann. Noch niemals zuvor hat ein Maxim-Darsteller so derart verzweifelt, mit sich hadernd, wütend, aggressiv, fassungslos, zutiefst zerrissen agiert wie Jan Ammann (Anmerkung: Die Rezensentin kennt Stück und die darin besetzten Darsteller bereits seit den Anfängen in Wien, hat die St. Gallener Inszenierung gesehen und natürlich auch den Beginn in Stuttgart mitverfolgt). Getoppt wird diese bereits superbe Leistung noch durch die große Verzweiflungsarie des Maxim de Winter im zweiten Akt bei Kein Lächeln war je so kalt, in deren Verlauf der Adlige am Bootshaus seiner „Ich“ gesteht, wie es zu Rebeccas Tod kam – ein Vorgang, der in unserer Rechtsprechung als Totschlag im Affekt gilt. Man darf einer grandiosen schauspielerischen Leistung beiwohnen. Wenn sich Maxim nach seinem Zusammenbruch an seine junge Ehefrau klammert und bebend die Frage stellt, ob sie ihn trotz allem immer noch lieben könne, gibt es nicht wenige feuchte Augen im Publikum.
Kurzer Zwischeneinwurf in der Pause einer sehr Musical-erfahrenen Freundin, die das Stück bereits in den letzten 6 Jahren an die dreißig Mal gesehen hat: „Meine Güte, wie gut der heute bei seiner Premiere schon ist – lass den mal vier Wochen spielen, dann ist es wohl nimmer auszuhalten“. Wahre Worte!
Zurück zum Stück: Im Folgenden spitzen sich die dramatischen Ereignisse zu, die Gerichtsszene erlebt einen nervös bis in die Haarspitzen angespannten Maxim. Ein inszenatorischer Höhepunkt ist der Moment, als in der Bibliothek von Manderley Jack Favell (Hannes Staffler) auf einer Befragung von Ben (Daniele Nonnis) zu den Vorfällen in der Nacht von Rebeccas Tod besteht. Hier steht es sprichwörtlich Spitz auf Knopf – Maxim weiß genau, dass Ben, der ja immer ums Bootshaus herumstrolcht, als einziger die Wahrheit kennt. Bei der alles entscheidenden Frage von Oberst Julyan an Ben, was er an dem bestimmten Abend am Bootshaus gesehen habe, kommt es zu intensivem Blickkontakt zwischen Ben und Maxim – Sekundenbruchteile entscheiden über Maxims Schicksal, flackernden Auges doch stumm beschwört Maxim Ben, ihm zu helfen. Dies ist unglaublich dicht inszeniert, und von den beiden Darstellern Jan Ammann und Daniele Nonnis brillant gespielt. Der geistig zurückgebliebene, aber herzensgute Ben folgt seinem Gefühl und rettet mit seinem gestammelten „Ben nix gehört – Ben nix geseh’n“ Maxim vor dem Galgen.
Als sich dann noch im weiteren Verlauf herausstellt, dass die todkranke Rebecca den jähzornigen Wutausbruch ihres Gatten absichtlich provoziert hat, um ihr bevorstehendes Siechtum abzukürzen und sein Leben durch den vermeintlichen Mord an ihr zu zerstören, fällt dem Herrn von Manderley bei dieser Erkenntnis eine Zentnerlast von den Schultern.
Solchermaßen fast schon erleichtert fallen sich „Ich“ und Maxim in die Arme und stimmen ihr Duett Jenseits der Nacht an, glauben, dass sie jetzt alles gemeinsam überstanden hätten und fortan ihre Liebe leben können.
Dass dem nicht unmittelbar so ist, ist hinlänglich bekannt – fackelt doch die mittlerweile dem Wahnsinn anheimgefallene Mrs. Danvers das herrschaftliche Anwesen bis auf die Grundmauern ab. Echtes, loderndes Feuer auf einer Theaterbühne in Verbindung mit den entsprechenden Projektionen sorgt für ein Riesenspektakel, das einmalig auf den Musiktheaterbühnen im deutschsprachigen Raum ist und zu Recht mit Szenenapplaus bedacht wird.
Das Auge wird reich bedient bei dieser Inszenierung, das Bühnenbild ist überwältigend, die Melodien gehen ins Ohr und die Darstellerriege spielt höchst engagiert auf. Kurz zu den weiteren Hauptrollen:
In der besuchten Vorstellung war Femke Soetenga als alternierende Mrs. Danvers zu erleben – stimmlich und schauspielerisch ein Genuss. Erfreulicherweise haben sich Isabel Dörfler (Mrs. van Hopper) und Hannes Staffler (Jack Favell) seit der Premiere im Dezember in ihren Rollen positiv weiterentwickelt. Was man von Jörg Neubauer (Frank Crawley) leider nicht sagen kann – er ist immer noch ein eher blasser Gutsverwalter. Kerstin Ibald als Maxims Schwester Beatrice ist eine Bank, sie war bereits in den Anfängen in Wien 2006 in dieser Rolle besetzt und hat diesen Charakter völlig verinnerlicht. An ihrer Seite als Ehemann Giles gefällt Raphael Dörr. Daniele Nonnis in der Rolle des zurückgebliebenen Ben ist – nach rein subjektivem Empfinden – vom Typ her falsch besetzt. Zu groß, zu stattlich, etwas zu reif an Lebensjahren. Unabhängig davon ist der Darsteller selbstverständlich ein großer Schauspieler, gar keine Frage. Aber mit dem Ben verbindet sich die Vorstellung eines kleineren, mit eingezogenen Schultern ängstlich agierenden Mimen.
Das Ensemble zeigt sich sehr spielfreudig. Die wenigen großen Ensemblenummern wie Strandgut und Der Ball von Manderley sind schwungvoll und mitreißend choreographiert. Das Orchester spielt engagiert auf – doch hört man deutlich, dass im Vergleich zur Wiener Produktion erheblich weniger Musiker im Orchestergraben ihrer Arbeit nachgehen.
Als Fazit einer rundum gelungenen Darsteller-Premiere bleibt zu hoffen, dass nunmehr, da es neben Pia Douwes mit dem in der Region Stuttgart sehr beliebten Jan Ammann ein weiteres prominentes Zugpferd in der Produktion gibt, die Kartenverkäufe merklich anziehen werden. Um dadurch dann vielleicht eine Verlängerung des Stückes, für das von Anfang an nur eine erstaunlich kurze Laufzeit von 13 Monaten angesetzt war, zu erreichen. Wünschenswert ist dies allemal – aufgrund der aktuellen fabelhaften Besetzung kann man jedem Musicalfreund nur besten Gewissens zurufen: „Auf nach Manderley!“
(Silvia E. Loske) 2. Mai 2012