Uraufführungspremiere 23. März 2023, Staatstheater am Gärtnerplatz, München
Es ist schon erstaunlich: Der Name Mata Hari ist auch nach weit über 100 Jahren immer noch präsent und dient sogar als Synonym für eine Verräterin. Unzählige Mythen ranken sich um das Leben dieser als angebliche exotische indische Tempel- und Nackttänzerin auf Europas Bühnen zu zweifelhaftem Ruhm gekommenen Frau, die offenbar rücksichtslos und manipulativ reihenweise Männer in hochstehenden Positionen um den Verstand und zeitgleich um ihr Geld gebracht hat. Die sich im ersten Weltkrieg erst von den Deutschen und kurz danach von den Franzosen als Spionin hat anwerben lassen und schließlich im französischen Vincennes im Alter von 41 Jahren am 15. Oktober 1917 nach vorausgegangenem Prozess standrechtlich erschossen wurde. Bücher, Filme, Theaterstücke befassten sich ausführlich mit ihrer Legende.
Nichts an dieser auf den Showbühnen von Paris, Madrid, Monte Carlo, Wien usw. vor vollen Häusern sich in einer Art Schleier-Striptease entblätternden Frau war echt. Vielmehr war Mata Hari offenbar ihrer Zeit weit voraus, denn schon damals zelebrierte sie das, was heutzutage gang und gäbe ist: Sie erschuf eine Kunstfigur und verbreitete ganz bewusst alternative Fakten und strickte so fleißig an ihrem mit Lügengeschichten und Geheimnissen umwabernden, egozentrischen öffentlichen Leben.
In Wirklichkeit hieß die Dame Margaretha Geertruida „Griet“ Zelle, war mitnichten exotischer Herkunft sondern stammte profan aus der niederländischen Provinz Friesland.
Das renommierte Autorenteam Kevin Schroeder (Buch und Liedtexte) und Marc Schubring (Musik) wagt mit dieser Inszenierung des Mythos Mata Hari einen Ritt auf der dramaturgischen Rasierklinge: Erzählt werden zwei Ebenen, die immer wieder ineinandergreifen. Da gibt es die lineare Spielebene, die vom Aufbruch der erst 19-jährigen Margaretha mit ihrem erst kurz zuvor angeheirateten 20 Jahre älteren Ehemann „Johnny“ Rudolph Mac Leod, einem Kolonialoffizier, via Schiffspassage nach Java erzählt, wo Rudolph stationiert ist.
Die zweite Ebene zeigt die von Griet erschaffene Kunstfigur Mata Hari als heutigen Popstar glamourös auf der Bühne, als Ausgeburt von Griets Träumen einer internationalen Karriere, als ihr Alter Ego.
So weit, so interessant. Doch dann verhakt sich das Buch fast ausschließlich in der rasch sich zeigenden unglücklichen Beziehung zwischen Griet und Rudolph: Sie will lebenshungrig alles mitnehmen, was nur irgendwie möglich ist, will Karriere machen. Er hingegen verlangt von seinem Eheweib, dass sie hinter ihm steht, eine treusorgende Frau und Mutter sein soll. Das kann nicht gut gehen und so werden wir alsbald Zeugen einer immer mehr häuslicher Gewalt anheimfallenden Ehe. Sie wird schnell schwanger, will dies aber nicht sein, der kugelrunde Bauch stört ihre Eitelkeit und Gefallsucht, sie denkt laut vor den vertrocknet-konservativen holländischen Offiziersgattinnen auf Java darüber nach, sich das Kind herauszuschneiden. Die Damenriege ist entsetzt.
Nach der Geburt des Knaben Norman ist Vater Rudolph außer sich vor Freude und Stolz und wiederholt unzählige Male „ich habe einen Sohn“, während Griet das Baby ablehnt, es der einheimischen Kinderfrau überlässt und nur völlig überfordert den weinenden Säugling anbrüllt „sei endlich still, ich kann nicht mehr“. Der Säugling kränkelt, Rudolph ist sehr besorgt, Griet kümmert das alles nicht. Sie widmet sich lieber ihren Affären vor Ort. Das Kind stirbt, alles spitzt sich zu. Rudolph erschießt die Kinderfrau, weil er sich einredet, sie habe Schuld am Tod des Babys.
Die Geschichte endet mit der Trennung Margarethas von ihrem unbeherrschten Mann, sie geht nach Paris, um endlich die langersehnte Karriere zu machen.
Durchsetzt wird diese linear erzählte Story durch die Ebene Mata Hari Popstar mit 12 Popsongs, darunter wenige Balladen und einige wirklich großartig groovende Uptemponummern mit Ohrwurmpotenzial. Die Lyrics, die teilweise sehr direkt, um nicht zu sagen derb ausfallen, sollen die Erzählung unterstützen und fortführen.
Hier Teile der Geschichte in Bildern (von der Fotoprobe einige Tage vor der Uraufführung)
Auf der Überfahrt von Amsterdam nach Java: Rudolph wartet mal wieder auf seine Frau..
Sie fällt gleich durch nervigen Selbstdarstellungstrieb unangenehm auf.
Im ehelichen Haushalt auf Java inszeniert sich Griet zum Missfallen von Rudolph und Frau van Rheede schamlos
Rudolph vor General Fock, ebenfalls dabei Leutnant Kuipers
Die hochschwangere Griet bei der Damenriege, sie will sich das Kind herausschneiden aus dem Bauch, die Damen sind entsetzt
Mata Hari Popstar mit ihren Backgroundsängern/innen und ihrer Showtruppe
Sohn Norman ist geboren, Rudolph verlangt von seiner Frau, dass sie sich als treusorgende Mutter um das Baby zu kümmern habe
… doch Griet hat nur ihre Selbstdarstellung und die Anmache der Kompagnie im Sinn
noch kann Rudolph Griet nicht widerstehen
Kinderfrau Merbati legt den Säugling in Griets Arme, damit diese endlich Muttergefühle entwickeln möge
Die Stimmung im ehelichen Haushalt eskaliert, Rudolph hat genug von Griets Bühneneskapaden
Rudolph und Kinderfrau Merbati sorgen sich um den kranken Norman
Norman stirbt, Mata Hari nimmt in einer emotionalen Ballade Abschied, „Schwerelos“
Normans Beerdigung
Rudolph verrennt sich blindlings in seine Einbildung, Merbati wäre schuld an Normans Tod, und erschießt sie
Mata Hari Popstar mit James Bond 007 Attitüde
Die Eheleute beschuldigen sich gegenseitig, für Normans Tod verantwortlich zu sein
Außer sich bedroht Rudolph Griet, drückt aber nicht ab
Finale „Larger than Life“
Erstmalig begegnen sich Griet und ihr Alter Ego Mata Hari Popstar. Ende
Woran es mangelt an Kevin Schroeders Buch, ist, dass die Geschichte der Margaretha Zelle genau da aufhört, wo es anfinge, interessant zu werden – nämlich dann, wenn sie nach Paris aufbricht, ihre Kunstfigur Mata Hari erschafft, ihre Affären mit hochrangigen Persönlichkeiten und Politikern zelebriert, ihre Anwerbung als Doppelspionin bis hin zum Prozess und ihre finale Hinrichtung.
Marc Schubrings Partitur bedient im Erzählstrang klassische Musicalkomposition, man hört balinesische Klänge auf der Spielebene Java heraus. Sondheim-Anleihen zeigen sich zunehmend häufiger in dissonanter werdenden Melodien mit den sich zuspitzenden Konfliktsituationen im häuslichen Umfeld des Ehepaars. In Erinnerung bleiben Griets „Nie wieder“ am Ende des ersten Aktes und Rudolphs „Alles wird gut“ mit Säugling Norman auf dem Arm.
Die 12 Poptracks wurden produziert von Kraans de Lutin und warten mit ordentlich E-Gitarren und Bass-Wumms auf. Das groovt ziemlich, hat aber andererseits zur Folge, dass die Textverständlichkeit der Songs ziemlich leidet.
Das großartig aufspielende hauseigene üppig besetzte Orchester unter dem Dirigat von Andreas Partilla ist wie immer ein Hochgenuss.
Die vielfältig platzierten und sehr ambitionierten Choreographien von Adam Cooper sind überaus sehenswert, die sechs Tänzer und Tänzerinnen, verstärkt durch die Pop-Diva und ihre drei Backgroundsängern/innen halten jedem MTV Clip Stand.
Alfred Mayerhofer durfte sich wieder einmal so richtig austoben beim Kreieren des Kostümbildes. Die Jahrhundertwenderoben und Uniformen passen original in das Zeitgeschehen. Die exzentrisch-schrillen Glamouroutfits der Shownummern sind ein Hingucker, so wirbeln die Tänzer/innen in zwei Nummern beispielsweise in Froschmann-artigen latexglänzenden Ganzkörperkondomen über die Bühne. Wieder einmal ein sehr gelungenes Kostümbild, Chapeau.
Das Bühnenbild von Karl Fehringer und Judith Leikauf zeigt überdimensional wandelbare und verkleidete Drehelemente (darauf immer wieder die Videoprojektionen) auf mehreren Ebenen, die sich im Handumdrehen vom Überseedampfer (erinnert etwas an das Musical Titanic), zu einem Tempel auf Java, einer Showtreppe, den Haushalt auf Java, etc. verwandeln lassen.
In schwarz-weißen Videoeinblendungen äußern sich Prozessbeobachter und Erzähler zu den Hintergründen von Mata Haris Lebenslauf, dies ist ein exzellenter dramaturgischer Kniff.
Was unbedingt noch Erwähnung finden muss ist das grandiose Lichtdesign von Michael Heidinger. Er vermag die atmosphärischen Stimmungen wunderbar einzufangen und optisch zu transportieren.
Alle Gewerke zusammen mit den famosen Darstellerleistungen laufen in der Hand von Regisseurin Isabella Gregor zu einer Einheit zusammen.
Zu den Darstellern:
Ann Sophie Dürmeyer ist die Abräumerin der Show als Mata Hari Popstar. Wie sie diese 12 heutigen Popnummern raushaut, ist einfach nur sensationell, was für eine Stimme, was für eine glamouröse Bühnenpräsenz!
Florine Schnitzel gibt die junge Margaretha, genannt Griet. An ihrem Spiel und ihrem Gesang gibt es nichts auszusetzen. Allerdings fehlt es ihr (noch) an dem für eine derartig tragende Hauptrolle erforderlichen Star-Appeal. Es erschließt sich nicht in ausreichendem Maße, wie sie bereits auf Java reihenweise Männer um den Finger wickeln kann – von Sexieness ist wenig zu sehen.
Armin Kahl ist Griets Ehemann und erschießt als Offizier ohne Moral mal eben so zwei Einheimische, weil ihm etwas nicht passt, ohne dafür zur Verantwortung gezogen zu werden. Auf der anderen Seite zeigt er tiefe Gefühle in seiner Vater-Verzweiflung um den kränkelnden Säugling Norman. Nach dessen Tod verfällt er immer mehr dem Alkohol, überdies nagt an ihm, dass ihm die fest eingeplante Beförderung verwehrt wird. Wieder einmal überzeugt Armin Kahl in einer Hauptrolle mit authentischem Spiel und sicherer, gefühlvoller Stimme – dies hauptsächlich in der berührenden Nummer „Alles wird gut“.
Dagmar Hellberg als Offiziersgattin Friga van Rheede, deren fünf Söhne allesamt im Krieg ihr Leben lassen mussten, und Erwin Windegger als General Fock, der dem Regiment auf Java und Sumatra vorsteht und Rudolphs Vorgesetzter ist, liefern wieder punktgenaue Darstellungen. Ebenso positiv fällt Gunnar Frietsch als junger Leutnant Kuipers auf, mit dem Griet anbandelt.
Fazit: Dies ist kein Musical, das man mal so eben im Vorbeigehen konsumiert, um einen netten Abend im Theater zu haben. Man muss bereit sein, sich auf die Brüche im Stück einzulassen, sich insbesondere den beiden im Zeitgeschehen vollständig konträren Erzählebenen zu öffnen. Meine Beobachtungen am Premierenabend zeigten, neben dem Fernbleiben einiger Besucher nach der Pause, ein komplett unterschiedlich reagierendes Publikum: Während die junge Generation das Stück aufgrund der treibenden Beats von Mata Hari Popstar mitsamt ihrem energetischen Showensemble lautstark frenetisch abfeierte, zeigte sich das doch im Gärtnerplatztheater in der überwiegenden Mehrheit vorhandene Publikum der Generation Ü60 größtenteils irritiert und reserviert.
Anzuraten ist deshalb auf jeden Fall, sich vor dem Besuch des Musicals über den Inhalt des Stücks und – so weit möglich – den dramaturgischen Aufbau zu informieren, idealerweise anhand des wie stets vom Theater vorzüglich mit allem Wissenswerten bestückten Programmheft. Dann tut man sich leichter, in das Stück zu finden. Oder man geht gleich mehr als nur einmal ins Musical, noch besser.
Schlussapplaus:
Premierenfeier:
Ann Sophie Dürmeyer
Gunnar Frietsch, Armin Kahl, Ann Sophie Dürmeyer
Armin Kahl und Ann Sophie Dürmeyer
Das Autoren-Duo Marc Schubring (Musik) und Kevin Schroeder (Buch)
Ann Sophie Dürmeyer und Florine Schnitzel, „Griet und Mata Hari Popstar“
Marc Schubring, Andreas Partilla (Musikalischer Leiter), Isabella Gregor (Regie), Kevin Schroeder (Buch)
Andreas Partilla, Isabella Gregor, Adam Cooper (Choreographie)
Weitere Termine unter www.gaertnerplatztheater.de
Alle Fotos aus Show, Schlussapplaus, Premierenfeier: ausschließliches Copyright
© Musical Reviews
Silvia Eva Loske, März 2023
Auftragswerk des Staatstheaters am Gärtnerplatz nach einer Idee von Marc Schubring & Kevin Schroeder
Kreative | |
Musik | Marc Schubring |
Buch und Gesangstexte | Kevin Schroeder |
Musikalische Leitung | Andrea Partilla |
Pop-Tracks | Kraans de Lutin |
Regie | Isabella Gregor |
Choreographie | Adam Cooper |
Bühne | Karl Fehringer, Judith Leikauf |
Kostüme | Alfred Mayerhofer |
Licht | Michael Heidinger |
Video | Raphael Kurig, Meike Ebert, Christian Gasteiger |
Dramaturgie | Michael Alexander Rinz |
Darsteller | |
Mata Hari, Popstar | Ann Sophie Dürmeyer |
Margaretha Griet Zelle | Florine Schnitzel |
„Johnny“ Rudolph Mac Leod | Armin Kahl |
Friga van Rheede | Dagmar Hellberg |
Jeroen Kuipers, Lieutenant | Gunnar Frietsch |
Cornelis Fock, General | Erwin Windegger |
Manon, Backgroundsängerin | Julia Sturzlbaum |
Inés, Backgroundsängerin | Denise Lucia Aquino |
Jean-Pierre, Backgroundsänger | Christian Schleinzer |
Merbati, Kinderfrau | Xiting Shan |
Ensemble: Denise Lucia Aquino, Tracey Adele Cooper, Gunnar Frietsch, Martin Hausberg, Leopold Lachnit, Frances Lucey, Ann-Katrin Naidu, Peter Neustifter, Holger Ohlmann, Elaine Ortiz Arandes, Christian Schleinzer, Xiting Shan, Julia Sturzlbaum, Erwin Windegger | |
Tänzer/Tänzerinnen Giovanni Corrado, Marta Di Giulio Deniz Doru, Thiago Fayad, Giulia Vazzoler, Andrea Viggiano | |
Es spielt das Orchester des Staatstheaters am Gärtnerplatz unter der Leitung von Andreas Partilla |