Staatstheater am Gärtnerplatz München
Europäische Erstaufführung
Es ist ein erneuter Coup der Musicalsparte des Gärtnerplatztheaters zu vermelden: Pfiffig schnappten sich die Verantwortlichen die Rechte an der deutschsprachigen Umsetzung des Broadway Hits aus dem Jahr 2019 und brachten am 7. Juli 2022 in München die europäische Erstaufführung höchst erfolgreich auf die Bühne.
Angelehnt an die mit unter anderem zahlreichen Oscars ausgezeichnete Filmkomödie von 1982 mit einem fulminanten Dustin Hoffman in der Hauptrolle geht das Bühnenstück in seiner hochaktuellen Thematik der nach wie vor für Frauen ungleichen und zum Großteil ungerechten Geschlechterbehandlung auf den Grund, hier angesiedelt im künstlerischen Bereich. Befeuert wird dies alles noch von der vor wenigen Jahren aufgekommenen gesellschaftlichen #MeToo Debatte.
Zur Story: Man befindet sich am New Yorker Broadway, mitten in einem der unzähligen und sich stets wiederholenden, für die dort hoffnungsvoll vorsprechenden Darsteller entwürdigenden Audition-Prozess.
Michael braucht einen Job: Der gerade 40 gewordene Michael Dorsay ist soeben in den Proben zu einer neuen Show vom seine Macht genussvoll auslebenden Regisseur und Choreographen Ron Carlisle gefeuert worden. Michael ist stets auf Krawall gebürstet und legt sich gerne mit verantwortlichen Kreativen an. Sicherlich hat er inhaltlich mit Vielem, was er kritisiert, Recht. Aber Widerworte kommen erfahrungsgemäß bei Regisseuren ganz schlecht an. Michael ist bereits mit dem Ruf des ewigen Querulanten abgestempelt – es hilft alles nichts: auch diesmal wird er wieder kaltgestellt und sein verzweifelter Ausruf „Niemand spielt Gemüse so überzeugend wie ich!“ in Anlehnung an seinen letzten Werbedreh, in welchem er eine Tomate darzustellen hatte, läuft ins Leere. Man will ihn einfach nicht!
Um irgendwie überleben zu können, kellnert Michael in einer Bar, ebenso wie sein Mitbewohner Jeff, der sich längst als erfolgloser, ewig unproduktiver Autor in sein Schicksal ergeben hat. Komplettiert wird das erfolglose Kreativ-Duo Michael und Jeff durch die immer wieder auftauchende Sandy, Michaels Exfreundin. Auch sie, eine Musicaldarstellerin, ist ständig auf der Suche nach einem Job und zeigt resigniert in einem höchst amüsanten Stakkato-Song „Ich weiß doch, was passier’n wird“ ihren Tagesablauf und ihre sich abstrampelnden Bemühungen im Business auf. Aktuell will sie unbedingt die Rolle der Amme in einer obskuren Musicalfortsetzung von Romeo & Julia ergattern, Michael versucht, Sandy auf die dazu angesetzte Audition vorzubereiten. Er selbst ist noch nicht bereit, aufzugeben. Ein Besuch bei seinem Agenten Stan, der ihn unverhohlen als nicht vermittelbar einstuft, lässt eine aberwitzige Idee in Michael reifen.
In Frauenkleidern als „Dorothy Michaels“ taucht Michael bei der besagten Romeo & Julia Audition auf und trifft dort ausgerechnet auf den gockelhaft sich selbst kolossal überschätzenden, sexistischen Regisseur und Choreographen Ron Carlisle, der ihn kürzlich in einer anderen Show so gnadenlos abgekanzelt und letztlich rausgeschmissen hatte.
Entgegen aller noch so kühnen Hoffnungen wird Dorothy/Michael tatsächlich als Amme besetzt, zu verdanken hat er das in erster Linie seinem couragierten Auftreten als „Charakterschauspielerin“ und dem Wohlwollen der Produzentin Rita Marshall, die in diesem Testosteron-getränkten Business als eine der wenigen Frauen an wichtiger Stelle sich längst ein dickes Fell zugelegt hat und der Dorothys selbstbewusste Art Respekt abnötigt.
Umgehend beginnen die Proben zu dem reichlich kruden Stück und Dorothy trifft auf ihre Kollegen Julie, die Julia-Interpretin und den reichlich dümmlich-eitlen Reality-Star Max Van Horn, der Romeos Bruder Craig mimt.
Dorothy und Julie haben sofort einen Draht zueinander, Julie fasst Vertrauen zu Dorothy und erzählt von ihren gescheiterten Beziehungen und ihren Karriereträumen.
Natürlich hat Dorothy so einiges an dem Stück, das tatsächlich eine hanebüchen zusammengezimmerte Story hat, auszusetzen. Bestärkt durch Produzentin Rita und zusammen mit Julie überarbeitet sie das Stück, sehr zum Missfallen von Regisseur Ron, dem die berühmten Felle davon zu schwimmen drohen.
Es kommt, wie es kommen muss: Michael verliebt sich in Julie, dieser wiederum steigt der übergriffige Ron mehr als dreist nach. Michaels Mitbewohner Jeff indes ist fassungslos über Michaels Charade und warnt ihn, dass das alles unweigerlich im Chaos enden wird.
Michael jedoch ist ob seines immer größer werdenden Einflusses in der Musicalbranche entschlossen, als Dorothy weiterzumachen, hat er doch endlich den ersehnten Erfolg in seinem Beruf. Julie fühlt sich zu Dorothy hingezogen und Michael begeht den Fehler, Julie in ihrer Wohnung zu küssen – Julie rennt verwirrt davon.
Michael ist nun wild entschlossen, Julie als Mann zu erobern und taucht in dem Club auf, in welchem Julie hin und wieder an ihren freien Tagen als Sängerin auftritt. Natürlich geht das schief, er bekommt eine eindeutige Abfuhr. Immer enger zieht sich die emotionale Schlinge um Michael/Dorothy und Julie zusammen, Julie hat Gefühle für Dorothy, will aber privaten Treffen mit ihr aus dem Weg gehen, sie ist zu durcheinander und zu überfordert mit dem Ganzen.
Michael kommt zu der Erkenntnis, dass er so nicht weitermachen kann und hält hilflos-überfordert Zwiesprache mit seinem Alter Ego „Sprich mit mir, Dorothy„.
Bei der Musical-Premiere läuft zunächst alles nach Plan, es bahnt sich ein großer Erfolg an.
Da lässt Dorothy die sprichwörtlichen Hosen herunter und gibt sich als Michael zu erkennen, als verzweifelter Schauspieler, der keinen anderen Weg sah, um endlich an einen Job zu kommen. Dies löst einen veritablen Theaterskandal aus, der gesamte Cast steht unter Schock. Michael ist zerknirscht und sieht ein, dass er in seinem Umfeld und besonders bei Julie viel emotionales Porzellan zerschlagen und Vertrauen gebrochen hat. Einige Zeit später trifft Michael Julie in einem Park und versucht eine ehrliche Aussprache mit ihr. Damit endet das Stück, ob es ein Happy-End geben wird, bleibt offen. Doch halt – ein Happy-End gibt es doch noch: Michaels stoischer Mitbewohner Jeff und die exaltiert-frustrierte Sandy kommen sich näher und es funkt tatsächlich zwischen den beiden.
Wer den Film kennt, wird sofort bemerken, dass es im Musical einige Änderungen gibt. So war es im Film eine Krankenhaus-Soap, in welcher Dorothy/Michael als Oberschwester besetzt wurde. Im Musical geht es – Stück im Stück – eben um ein Broadway-Musical. Dies hat zur Folge, dass etliche überaus energetische Tanz-Ensemble-Nummern (von Adam Cooper bewährt choreographiert) eingebaut wurden. Das detailverliebte Bühnenbild zeigt in raschem Wechsel dank Drehbühne und Hubpodien die WG von Michael und Jeff, das Set im Theater, die Wohnung von Julie, die Premierenbühne usw. Die Kostüme sind – was den privaten Darstellerbereich angeht – in der Jetztzeit verankert, die Bühnenkostüme verweisen mit viel Pettycoats auf die Fünfziger Jahre.
Der Score ist im typischen Broadway-Sound gehalten. Ein großer Hit ist nicht auszumachen, im Ohr bleiben das Opening „Michael braucht einen Job“, „Ich bin für Euch da“ mit mehrfachen Reprisen und „Grenzenlos“. Bettina Mönch als Julie punktet mit der packenden R ’n’ B Nummer „Alles läuft schief“ und Sandys Stakkato „Ich weiß doch, was passier‘n wird“ wird vom Publikum amüsiert gefeiert. All dies setzt das tolle Gärtnerplatzorchester unter der Leitung von Andreas Partilla schwungvoll und mit viel Drive um. Die Tonaussteuerung ist ohne Tadel, die Textverständlichkeit gut. Ebenso bravourös das Lichtdesign.
Gil Mehmert ist der ausgewiesene Fachmann für Musicals, die einen Filmstoff zur Grundlage haben. Die Pointen sitzen punktgenau, auch Dank der intelligenten Übersetzung von Roman Hinze. Mit viel Tempo inszeniert Mehmert TOOTSIE, baut witzige Details ein wie die mit dem Konterfei von Dorothy Michaels bestückten Titelplakate zu den Musical Smash Hits ELISABETH, SUNSET BOULVEVARD; EVITA, CHICAGO etc. als Hommage an ihren unglaublichen Broadway-Erfolg als Leading Lady. Ohne belehrendes Gehabe zeigt Mehmert subtil die gesellschaftlichen Problematiken und immer noch vorhandenen Fallstricke im generellen Verhältnis Mann/Frau sowie im Besonderen in dieser Konstellation in der Theaterwelt auf.
Mit untrüglichem Instinkt versammelt Mehmert eine superbe Darstellerriege, die bis in die kleinste Nebenrolle mit enormer Spielfreude zu Werke geht. Allen voran stets im Mittelpunkt und fast durchgehend auf der Bühne Armin Kahl in der herausfordernden Rolle als Michael/Dorothy. In rasendem Tempo vollführt er seine Switches zwischen diesen beiden Charakteren inklusive der oftmals in nur wenigen Sekunden erforderlichen Kostümwechsel. Beeindruckend, wie er stimmlich den Balanceakt stemmt zwischen der höheren Dorothy-Stimmlage und seiner normalen Stimmlage als Mann. In seinem Spiel geht er stets respektvoll vor allem mit der Charakterisierung von Dorothy um, gleitet nie ins Tuntenhafte ab, bezieht das Publikum glaubhaft mit ein in seine Zerrissenheit Mann/Frau. Wieder einmal eine exzellente Leistung des enorm vielseitigen Armin Kahl, TOOTSIE ist mit Sicherheit ein weiterer Meilenstein in seiner Karriere.
Nicht weniger vielseitig als der Hauptdarsteller zeigt erneut Bettina Mönch, dass man im deutschsprachigen Musical kaum mehr an ihr vorbeikommt. Egal ob Komödie oder Drama, sie kann einfach alles. Ihre Julie Nichols ist liebenswert, vielleicht etwas naiv, was die Männerwelt angeht. Vor allem ihre große emotionale Verwirrtheit, als sie sich plötzlich zu einer Frau hingezogen fühlt, stellt sie sehr nachvollziehbar dar. Und was sie stimmlich kann, zeigt sie in dem treibenden Song „Alles läuft schief“, den sie in atemberaubendem Outfit mit ellenlangen Beinen auf die Bühne nagelt.
Alexander Franzen gibt den ätzenden, machtgeilen Regisseur Ron Carlisle mit der erforderlichen Macho-Attitüde, er ist ständig hyperaktiv unterwegs und malträtiert seinen Cast. Nicht von ungefähr erinnert seine ganze Aufmachung von der Lockenperücke, über die Brille bis zum Rollkragenpullover an einen der ehemals bekanntesten und gefürchtetsten deutschen TV-Regisseure, der aufgrund seiner Übergriffigkeit seinen Darstellerinnen gegenüber mit deswegen anhängigem Gerichtsverfahren vor einigen Jahren medial omnipräsent war. Eine erneut punktgenaue Darstellung des Künstlers Alexander Franzen, der völlig zu Recht häufiger und gern gesehener Gast in den Gärtnerplatzproduktionen ist.
Drei Darsteller sind aufgrund ihres komischen Talents aus dem durchgehend hervorragenden Cast noch hervorzuheben: Da ist Julia Sturzlbaum als neurotische Exfreundin und Kollegin von Michael, die das Publikum mehrfach zu Szenenapplaus verleitet. Urkomisch ihre Auditionszene, die sie gnadenlos trotz mehrfach versuchter Abbrüche seitens des Regisseurs bis zum Ende durchzieht.
Ebenso köstlich und auch überraschend in seiner Rolle brilliert der junge Opernbariton Daniel Gutmann als komplett talentbefreiter, selbstverliebter Schönling. Bei jedem Erscheinen auf der Bühne amüsiert sich das Publikum aufs vortrefflichste über ihn, wenn er ständig durch Aufreißen des Oberhemds seinen Sixpack präsentieren muss und vor lauter Schönheit kaum geradeaus zu gehen fähig ist.
Zum Schmunzeln bringt einen auch der stoisch lamentierende WG-Freund Jeff in Person von Gunnar Frietsch, der die besten staubtrockenen Kommentare von sich gibt. In kleineren Nebenrollen sind noch die Gärtnerplatz Urgesteine Dagmar Hellberg und Erwin Windegger zu erleben, wie immer ist es eine Freude, diese beiden großartigen Künstler agieren zu sehen.
Fazit: Unbedingt schnellstens Tickets sichern für diese Show. Am besten mindestens zweimal, um auch wirklich alle der pointierten zahllosen Gags und die hinreißenden Dialoge mitzubekommen.
Schlussapplaus:
Alle Szenenfotos © Jean-Marc Turmes, Schlussapplaus-Fotos © Musical-Reviews
Weitere Termine:
Samstag, 17.09.2022,19.30 Uhr, Spielzeitpremiere
Sonntag, 18.09.2022,18.00 Uhr
Donnerstag, 22.09.2022, 19.30 Uhr
Sonntag, 02.10.2022, 18.00 Uhr
Montag, 03.10.2022, 18.00 Uhr
Samstag, 27.05.2023, 19.30 Uhr
Sonntag, 28.05.2023, 18.00 Uhr
Montag, 29.05.2023, 18.00 Uhr
Informationen, Tickets, Trailer und Stückeinführung zu finden unter
Gärtnerplatztheater – Tootsie (gaertnerplatztheater.de)
Musical basierend auf dem gleichnamigen Film von Columbia Pictures 1982
Kreative | |
Musik und Gesangstexte | David Yazbek |
Buch | Robert Horn |
Deutsche Übersetzung | Roman Hinze |
Musikalische Leitung | Andrea Partilla |
Regie | Gil Mehmert |
Choreographie | Adam Cooper |
Bühne | Karl Fehringer, Judith Leikauf |
Kostüme | Alfred Mayerhofer |
Licht | Michael Heidinger |
Dramaturgie | Michael Alexander Rinz |
Darsteller | |
Michael Dorsay/ Dorothy Michaels | Armin Kahl |
Julie Nichols | Bettina Mönch |
Sandy Lester | Julia Sturzlbaum |
Jeff Slater | Gunnar Frietsch |
Max Van Horn | Daniel Gutmann |
Ron Carlisle | Alexander Franzen |
Rita Marshall | Dagmar Hellberg |
Stan Fields | Erwin Windegger |
Stuart | Peter Neustifter |
Suzie | Tracey Adele Cooper |
Carl | Frank Berg |
Ensemble: Alexander Moitzi, Andreas Nützl, Christian Schleinzer, Florine Schnitzel, Jane-Lynn Steinbrunn, Lara de Toscano, Oriol Tula, Samantha Turton | |
Es spielt das Orchester des Staatstheaters am Gärtnerplatz |