Lange entbehrtes Soulfood vor unvergleichlicher Kulisse
Festspielhaus Neuschwanstein Open-air Barockgarten, im Rahmen des Formats Sommergarten Solidaritätskonzerte, 26. August 2020
In diesen Ausnahmezeiten, in denen sich die ganze Welt einem unsichtbaren Feind gegenübersieht und in denen neben zahllosen anderen Bereichen die komplette Kulturwelt zum Stillstand verurteilt wurde, ist die Theaterwelt nahezu mit einem Berufsverbot belegt. Während städtische und staatliche Musiktheaterhäuser noch ihre Angestellten immerhin mit Kurzarbeitergeld über Wasser halten können und für die laufenden Betriebskosten Hilfe vom Staat erhalten, trifft es die privaten Theater und alle freischaffenden Künstler am härtesten. Die Kosten laufen weiter und es sind keine Einnahmen in Sicht.
Wie in dieser Situation nicht in Mutlosigkeit und verzweifelte Existenzangst abstürzen? Wie nicht den künstlerischen Anschluss aus den Augen verlieren in diesem noch immer unabsehbaren Zeitraum, bis man endlich wieder auf der Bühne stehen und seine Kunst präsentieren darf?
Der umtriebige Intendant des Festspielhauses Neuschwanstein (wie die Namensgebung des Theaters pünktlich zum 175. Kini-Geburtstag am 25. August wieder etabliert wurde) nutzt die prächtigen Gegebenheiten des Festspielhaus-Geländes und sorgt in sechs Wochen von Ende Juli bis Mitte September mit Open-air Solidaritätskonzerten im Barockgarten und einem sehr vielfältigen Programm dafür, dass Publikum und Darsteller gleichermaßen in übersichtlichem Rahmen wieder zusammen Musik erleben dürfen.
An drei aufeinanderfolgenden Abenden präsentiert ART & SOUL einen Musical-Sommerabend mit gesamt etwas über 1000 Besuchern. Am letzten der drei Termine zeigt sich der Wettergott gnädig und reduziert pünktlich zum Konzertbeginn um 20:00 Uhr die den ganzen Tag über massiven Sturmböen auf ein harmloses Lüfterl, somit stand einem sehr schönen Musicalabend mit Jan Ammann, Jan Rekeszus, Michaela Schober und Roberta Valentini nichts mehr im Wege. Begleitet von dem bewährten One-Woman-Orchester Marina Komissartchik am Flügel zeigen sich die Interpreten sichtbar glücklich über die Möglichkeit, endlich wieder Ihr Können mit dankbarem Publikum teilen zu dürfen.
Der Star des Abends ist jedoch die spektakuläre Kulisse mit dem Schloss Neuschwanstein im Hintergrund auf der anderen Seite des Forggensees.
Das Programm setzt sich zusammen aus vertraut-geliebten Musicalballaden sowie selten bzw. noch nie dargebotenen musikalischen Perlen. Zu Letzteren zählen Verliert den Glauben nicht aus Der Medicus, Make our Garden grow aus Leonard Bernstein’s Candide, ein inbrünstig auf Italienisch von Roberta Valentini dargebotenes Caruso mit einer virtuos aufspielenden Marina Komissartchik an den Tasten sowie die deutschsprachige Erstaufführung Gold verweht zu Sand aus dem Björn Ulvaeus/Benny Andersson Musical Kristina från Duvemåla, großartig interpretiert von Jan Rekeszus.
Bei den geliebten Musicalballaden fällt wieder einmal auf, auch wenn man die Songs längst vorwärts und rückwärts auswendig kennt, dass insbesondere die textlichen Werke von Michael Kunze von unvergleichlicher Qualität sind. Anders empfinde ich es – subjektiv – bei Songs aus dem Schlager-Genre, wie in diesem Programm Küss mich, halt mich und Der gekaufte Drachen: Wenn in den letzten Liedstrophen sinnfreies „lalala“ ertönt, dann drängt sich mir stets der etwas peinliche Eindruck auf, dass dem Autor da nichts mehr eingefallen ist. Was schade ist, denn insbesondere Der gekaufte Drachen thematisiert sehr einfühlsam einen Vater/Sohn-Konflikt und überzeugt aus der Sicht eines kleinen Jungen, der sich nichts sehnlicher wünscht, als Zeit mit seinem karrieremäßig eingespannten Vater zu verbringen. Ein inhaltlich berührendes Lied, wenn da nicht dieses höchst überflüssige „lalala“ wäre.
Höhepunkte des Programms zu benennen ist aufgrund der Vielzahl eben dieser ein nicht einfaches Unterfangen. Nachhaltig präsentiert sich Roberta Valentini einmal mehr als sichere Bank in Interpretation und Stimmvermögen. Eine dreisprachige Eiskönigin, ein sehr unter die Haut gehendes Blind vom Licht der vielen Kerzen, das schon erwähnte Caruso und eine auftrumpfende Kaiserin Elisabeth sprechen für sich.
Michaela Schober begeistert wie immer mit ihrer warmen Stimme, Dir gehört mein Herz kann man sich beim besten Willen nicht schöner gesungen vorstellen, ebenso beeindruckend gelingt ihr Gold von den Sternen, das Lied der Baronin von Waldstätten aus Mozart!
Hinter hohen Klostermauern und das bereits genannte Gold verweht zu Sand sind die herausragenden Arien, die von Jan Rekeszus mit klarem und sicherem Tenor präsentiert werden. Als einer der amtierenden Könige im Festspielhaus berührt er natürlich auch insbesondere mit Geliebte Berge.
Der Gänsehaut-Moment des Abends gebührt Jan Ammann. Wie er bei Kalte Sterne und der Textzeile „Ich bin Ludwig, bin der König“ entrückt dem Publikum den Rücken zudreht und sich mit großer Geste dem See zuwendet und dabei sein mystisch illuminiertes Schloss Neuschwanstein ansingt, sorgt beim Publikum für Schnappatmung. Bis in die Fingerspitzen nimmt man ihm bei dieser Interpretation seiner Lebensrolle den visionären und in seiner Zeit auf Unverständnis treffenden König Ludwig II. ab. Bau ein Schloss wie ein Traum. Genau dort, auf der anderen Seite des Sees, ist es für alle sichtbar. Mehr Authentizität an historischer Stätte geht nicht.
Höchst amüsant gestaltet sich der kleine Tanz der Vampire Block: Leicht genervt zeigt sich Sarah vom überbordend naiven Alfred bei Draußen ist Freiheit und linst bereits erwartungsfroh Richtung Graf Krolock, den vermeintlich echten Kerl zieht sie dem Jüngelchen deutlich vor. Verständlich!
Doch der lüstern nach Jungfrauenblut lechzende Graf Krolock geht diesmal leer aus: Machen ihm doch die Corona-Abstandsregeln bei der Totalen Finsternis einen Strich durch die Rechnung, sich an Sarahs Hals gütlich zu tun. Das resignierte Schulterzucken von Graf Jan-Krolock anstelle des sonst üblichen weit ausholenden Fast-Bisses wird von den Besuchern mit einhelligem Gekicher quittiert.
Als letzte Zugabe eines Viererblocks, der Hoffnung und Zuversicht schenken soll, setzt ein von allen Solisten wunderschön interpretiertes Hallelujah den Schlusspunkt unter ein Konzert, das von den Besuchern dankbar goutiert wird.
Licht und Ton sind wie immer durch Andreas Luketas Team exakt abgemischt, da zeigt sich langjährige beste Erfahrung.
Das Konzert dauert gute 100 Minuten und wird ohne Pause durchgespielt. Das Team des Festspielhauses bemüht sich mit einer großen Anzahl an Mitarbeitern und Helfern, den Besuchern mit ausgearbeitetem Hygienekonzept einen schönen Abend zu bieten. Obwohl es im Großen und Ganzen gut funktioniert, hakt es mancherorts im aufwendigen Organisationsablauf. Die Besucher halten sich vorbildlich auf dem Gelände an Abstandsregeln und das Tragen von Mund-/Nasenschutz, während des Konzerts darf die Maske abgenommen werden.
Dank geht an Initiatoren, Veranstalter und Künstler, mit dem Sommerabend-Format in diesen wirren Zeiten schöne Stunden zu ermöglichen. Und an die Besucher, dass sie Solidarität und Unterstützung bieten.
Alle Fotos unterliegen dem alleinigen Copyright von Musical Reviews.
Silvia E. Loske, August 2020
Konzept: Andreas Luketa für ART & SOUL
Am Flügel: Marina Komissartchik
Tarzan: Can you hear the Love tonight Dir gehört mein Herz | Alle Michaela Schober |
Eiskönigin: Lass jetzt los | Roberta Valentini |
Newsies: Santa Fe | Jan Rekeszus |
Ghost: Unchained Melody | Jan Ammann |
Marie Antoinette: Blind vom Licht der Kerzen | Roberta Valentini |
Mozart: Gold von den Sternen | Michaela Schober |
Elisabeth: Kein Kommen ohne Gehn Ich gehör nur mir | Jan Ammann Roberta Valentini |
Die Päpstin: Hinter hohen Klostermauern Ein Traum ohne Anfang und Ende Wehrlos | Jan Rekeszus Jan Ammann Michaela Schober & Jan Ammann |
Caruso | Roberta Valentini |
Kristina från Duvemåla: Gold verweht zu Sand | Jan Rekeszus |
Küss mich, halt mich | Michaela Schober |
Der gekaufte Drachen | Jan Ammann |
Tanz der Vampire: Draußen ist Freiheit Totale Finsternis | Jan Rekeszus & Michaela Schober Jan Ammann & Michaela Schober |
Ludwig2: Geliebte Berge Kalte Sterne | Jan Rekeszus Jan Ammann |
Der Medicus: Verliert den Glauben nicht | Michaela Schober |
Cats: Erinnerung | Roberta Valentini |
Candide: Make our Garden grow | Jan Rekeszus & Roberta Valentini |
Hallelujah | Alle |