Stadttheater Fürth, deutsche Erstaufführung 11.10.2013
Das 2008 am Broadway uraufgeführte Stück sorgte dort für ausverkaufte Häuser, wurde mit Preisen überhäuft, darunter der Pulitzerpreis für das beste Drama (!) und wurde vom Publikum einhellig begeistert aufgenommen.
Erstaunlich, handelt es sich doch dabei um das – zumindest für Musicalbühnen – sperrige Tabuthema einer Mutter, die an einer schweren psychischen Störung erkrankt ist und die Auswirkungen dieser Erkrankung auf ihre Familie zeigt. In Form eines Rockmusicals kommt dieses fast kammerspielartige Stück mit nur sechs Darstellern daher, ohne große Bühnenausstattung, ohne Kostüme und Maske – ganz pur, direkt und aktuell.
Titus Hoffmann, in der deutschsprachigen Musicalszene seit langem renommiert, übertrug das Stück ins Deutsche – und war dann auf der Suche nach einem Intendanten, der sich zutraute, das Werk in Deutschland auf die Bühne zu bringen. Das Stadttheater Fürth wagte es und konnte mit der Verpflichtung von einigen der etabliertesten Musicaldarsteller innerhalb der Branche einen vielbeachteten Coup landen. Von dementsprechend großem Interesse begleitet fand jetzt die Premiere im ausverkauften, schönen Stadttheater Fürth statt.
Die Geschichte im Kurzüberblick:
Die amerikanischen Goodmans scheinen auf den ersten Blick eine ganz normale Familie zu sein. Die Eltern, Diana und Dan, sind seit 18 Jahren verheiratet, haben einen 18-jährigen Sohn, Gabe, und eine 16-jährige Tochter, Natalie. Sie leben in gutsituierten Verhältnissen in einem großzügigen Haus, der Vater geht seiner Arbeit nach, Mutter Diana versucht, alles perfekt zuhause zu organisieren, begluckt ihre fast erwachsenen Kinder.
Die hochbegabte, aber gleichwohl fatalistisch-trotzige Tochter Natalie fühlt sich ständig gegenüber ihrem Bruder in der Zuneigung ihrer Mutter und aufgrund deren Krankheit zurückgesetzt – ihr Schulkamerad Henry verliebt sich in sie und bleibt trotz ihrer ständigen Zurückweisung hartnäckig-sympathisch weiterhin am Ball und bricht nach und nach Natalies Selbstschutz-Mauer auf.
Dass mit Mutter Diana was nicht stimmt, wird gleich zu Beginn klar – hektisch bereitet sie, nach morgendlichem Quickie mit Dan (was ihn zur Hochstimmung veranlasst „das war toll, nicht wahr“ während sie erneut frustriert über die ausbleibende sexuelle Erfüllung reflektiert), für die Familie das Frühstück zu. Und stapelt auf dem Fußboden Unmengen von Sandwiches auf- und übereinander… Dan hilft ihr liebevoll hoch und bringt sie zum Psychiater, wieder einmal, wie deutlich wird. Dieser stopft Diana lediglich lapidar und ohne jegliches Engagement mit Psychopharmaka voll.
Die Ursache von Dianas Trauma wird erkennbar in einer der nächsten Szenen, Natalies Freund Henry lädt sich kurzerhand selbst ein, um endlich mal ihre Familie kennenzulernen – er wird von Dan herzlich zum Abendessen gebeten „Alles wird gut, wir sind eine glückliche Familie“. Der Tisch wird jedoch nur für vier Personen und nicht für fünf gedeckt, Sohn Gabe steht hinter der hektisch mit Geschirr hantierenden Diana. Da wird klar, dass Gabe gar nicht real existiert, sondern nur von seiner Mutter gesehen wird. Diana bringt eine Geburtstagstorte für Gabe – es kommt heraus, dass Gabe vor achtzehn Jahren als Säugling mit acht Monaten gestorben war – für Diana der Auslöser ihrer bipolaren Erkrankung. Vater Dan versucht mit seinen Mitteln, die natürlich unzureichend sind, seiner Frau zu helfen. Symptomatisch sein Ausspruch „ich weiß nicht, wovon sie spricht“. In einen neuen Psychiater, Dr. Madden, setzt Dan große Hoffnung, Diana bleibt distanziert, sieht sie doch diesen Arzt zwischendurch in ihren Halluzinationen als agressiven Rockstar, eine neue medikamentöse Behandlung wird versucht, ebenso nimmt Diana an Gesprächstherapien teil.
Dr. Madden und Dan versuchen Diana dazu zu bewegen, endlich loszulassen und Gabe’s von ihr noch immer aufbewahrte Babysachen wegzuräumen. Dies löst einen schweren Schub bei Diana aus, sie setzt eigenmächtig alle Medikamente ab und spült sie die Toilette hinab „wir haben die glücklichste Klospülung der Stadt“. In ihren Vorstellungen lockt Gabe sie nachdrücklich, endlich mit ihm zu kommen – ein Selbstmordversuch ist die Folge. Im Krankenhaus willigt die verängstigte Diana nach Drängen ihres Mannes und des Arztes in eine angeblich unerlässliche Elektrokrampftherapie, EKT, ein. Nach dieser Behandlung bessern sich zwar die Beschwerden ihrer bipolaren Störung, doch hat sie massiven Erinnerungsverlust. Daran droht die Familie nun endgültig zu zerbrechen. Natalie verfällt immer mehr dem Drogenkonsum, der ihr als einziger Fluchtpunkt erscheint – Henry steht ihr unerschütterlich bei, obwohl sie ihn wieder einmal zurückstößt. Vater Dan versucht verzweifelt, zu Diana durchzudringen, er hat panische Angst, alleine leben zu müssen. Diana erkennt, dass sie einen Neuanfang wagen muss und verlässt Mann und Tochter. Dieser Schritt nötigt Natalie Respekt ab und sie und ihre Mutter nähern sich an, zudem kann sie es jetzt endlich zulassen, zu ihren Gefühlen zu Henry zu stehen.
Zurück bleibt Dan als gebrochener Mann, einsam auf einem Stuhl sitzend. In dieser Situation lässt es Dan erstmals zu, dass sein toter Sohn Gabe zu ihm Kontakt aufnimmt, Vater und Sohn umarmen sich. Am Ende wird allen Beteiligten klar, dass sich nur durch den Mut zu einem Neustart die Tür zu neuem Licht öffnen kann..
Die Vermutung liegt nahe, aus diesem Stoff ein gutes Theaterstück machen zu können. Indes – es ist ein Musical geworden, das zu fast 90 Prozent durchkomponiert ist. Die rockigen Songs, die sich mit bewegenden Balladen abwechseln, bringen die Handlung voran. Tatsächlich finden sich 39 Musiktitel in der Show, teilweise durchsetzt mit Sprechpassagen, interpretiert als Soli, Duette und zu einem Großteil als Ensemblenummern. Im Gehörgang bleiben vor allem Gabe’s Titel Ich lebe sowie Richtig für Dich, ein Duett von Natalie und Henry.
Die fünfköpfige Band unter der Leitung von Christoph Wohlleben, im hinteren Teil der oberen Etage platziert, spielt mit Drive und Elan, jedoch leider von der Aussteuerung her manches Mal zu laut, was zur Folge hat, dass die Stimmen der Sänger vor allem von den Percussions übertönt werden und man die Lyrics nicht mehr versteht. Hervorzuheben ist das anrührende Spiel des Violoncellos.
Das Bühnenbild ist, wie bereits eingangs erwähnt, spartanisch. Nachhaltig eindrucksvoll unterstützen Videoprojektionen das Geschehen. Sehr gut gelungen ist das Hervorheben der jeweiligen Spielfläche durch die Installation eines über die komplette Bühnenbreite nach oben und unten fahrbares schwarzes Panel, das bei Bedarf die jeweils gerade nicht bediente Spielebene abdunkelt und so den Fokus auf den anderen Teil richtet. Das Lichtdesign setzt punktgenau auf eine interessante Mischung aus Hintergrundbeleuchtung und kalten, harten Verfolgern und passt damit haargenau zur anspruchsvollen Handlung.
Die sechs Darsteller sind optimal besetzt und ordentlich gefordert, nicht nur gesanglich und künstlerisch, sondern auch physisch. Ständig sind sie treppauf-treppab in rasanten Szenenwechseln unterwegs.
Natürlich dreht sich alles im Stück um die Hauptdarstellerin des Charakters Diana. Hierzu bedarf es einer höchst charismatischen, starken und zugleich verletzlich agierenden Darstellerin mit beeindruckendem Star-Appeal. Mit der Verpflichtung der Musical Grande Dame Nr. 1 in Europa, der unvergleichlichen Pia Douwes, ist dem Stadttheater Fürth ein bemerkenswerter Coup gelungen. Wenn man jedoch hört, dass Pia Douwes, die das Stück seinerzeit im Original in New York gesehen hat und daraufhin unbedingt diese Rolle spielen wollte, dann fügt sich alles zusammen. Zu den unzähligen Hauptrollen, die sie zum Teil kreiert und ihren ganz eigenen Stempel aufgedrückt hat, kommt nun diese der Diana hinzu. Und man fragt sich wieder einmal, ob es im Bereich Musical irgendetwas gibt, das diese Frau nicht kann. Das Bühnengeschehen zirkuliert um sie und man vergisst völlig, dass es sich um eine Rolle handelt, so zieht sie einen durch ihr Spiel und ihre wundervolle, facettenreiche Stimme in den Bann. Völlig egal ob barfuss und im Morgenmantel oder anzüglich mit ihrem Psychiater flirtend, ob als überbesorgte Mutter oder als zutiefst bemitleidenswerte, unter ihren psychischen Störungen leidende Person – sie liefert in jeder Sekunde eine mehr als grandiose Leistung.
Als ihr Ehemann Dan liefert Thomas Borchert ein äußerst stimmiges Porträt des stets hilfsbereit und liebevoll bemühten, doch letztlich völlig hilflos agierenden Partners von Diana ab. Man entdeckt eine völlig neue Seite an diesem renommierten Musicaldarsteller. Dass er eine starke Stimme hat, ist ja hinlänglich bekannt, doch dass er auch zu so nuanciertem Spiel fähig ist, beeindruckt doch ziemlich.
Sabrina Weckerlin gibt die verletzlich-kratzige, in ihrer Not sich mit einem imaginären Stacheldraht umgebende Tochter Natalie. Mit traumhaft sicherer Stimme und punktgenauem Spiel überzeugt sie vollends. Ihre rotzigen Kommentare sorgen für so manchen Lacher.
Einen Toten zu spielen ist sicher nicht ohne, Dirk Johnston bewältigt dies schauspielerisch hervorragend. Jedoch gibt es Abstriche bei seiner gesanglichen Leistung, am Premierenabend schummeln sich mehrmals schiefe Töne in seine Gesangsparts ein, bei höheren Lagen bekommt er leider die Kurve nicht.
Dominik Hees ist der unkonventionelle, höchst sympathische Henry – eine Rolle, die dem jungen, hochtalentierten Darsteller auf den Leib geschneidert zu sein scheint. Obwohl jung an Jahren, blickt dieser Henry total durch bei dieser „fast normalen“ Familie – cool und liebenswert füllt er seinen Charakter aus.
In einer Psychiater-Doppelrolle sowohl als lethargischer Wiener Seelenklempner Dr. Fine als auch smarter Nervenarzt Dr. Madden erfreut Ramin Dustdar mit starker Stimme und akzentuiertem Spiel.
Kurzum: Diese Besetzung kann nur als Glücksgriff angesehen werden. Bravo!
„Next to Normal – fast normal“ ist aufregend und spannend, etwas völlig Neues im Musicalmarkt. Und wider Erwarten ist es überhaupt nicht kompliziert oder gar anstrengend, sich darauf einzulassen. Nein – das geschieht ganz von selbst, von der ersten Minute an ist man mitten drin in dieser Familie, die um ihre vermeintliche Normalität kämpft. Lachen und Weinen liegen ganz eng beieinander, der Zuschauer befindet sich auf einer Achterbahn der Gefühle. Und es ist bei weitem nicht ein getragenes, depressives Stück, im Gegenteil, es gibt auch viel zu Lachen. Wie dies bei dieser tiefgehenden Thematik gelingt, ist einfach nur großartig.
Das Premierenpublikum honorierte die Leistungen von Kreativ-Team, Musikern und allen voran der hervorragenden Darsteller mit Standing Ovations und langanhaltendem Jubel.
Hingehen, anschauen, sich begeistern lassen!
Tickets und weitere Informationen unter www.stadttheater.fuerth.de
(Silvia E. Loske, Oktober 2013)
Musik von Tom Kitt, Buch und Liedtexte von Brian Yorkey, Uraufführung 2008 in New York. Deutsch von Titus Hoffmann |
Musikalische Leitung |
Christoph Wohlleben |
Inszenierung |
Titus Hoffmann |
Ausstattung |
Stephan Prattes |
Musical Staging |
Melissa King |
Lichtdesign |
Sebastian Carol |
Sounddesign |
D. Selinger, W. Meyer, A. Sticht, M. Berthold |
Videoprojektion |
Daniel Bahnke |
Kostümbild |
K. Fröhlich-Buntsel, A. Kreuzer-Scharnagl, K. Ehrlicher |
Maske |
Nicole Zürner |
Darsteller: |
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Diana Goodman |
Pia Douwes |
Dan Goodman |
Thomas Borchert |
Gabe Goodman |
Dirk Johnston |
Natalie Goodman |
Sabrina Weckerlin |
Henry |
Dominik Hees |
Dr. Fine/Dr. Madden |
Ramin Dustdar |
Musiker: Eckhard Stomer, Rüdiger Nass, Alex Uhl, Henning Vater, Pirkko Langer |