Staatstheater am Gärtnerplatz
Im Nachgang zu meinem Premierenbericht der Co-Produktion im Theater St. Gallen vom 9. Dezember 2023 und einem kurz danach sehr ausführlichen Interview mit Valjean-Hauptdarsteller Armin Kahl zur Inszenierung (alles hier auf dieser Präsenz) fand nun also am 22. März 2024 die lang, lang ersehnte München-Premiere des neben dem ‚Phantom der Oper‘ weltweit erfolgreichsten Musicals, des epischen Meisterwerks ‚Les Misérables‘, statt.
Wie besonders genau dieses Musical für das Staatstheater am Gärtnerplatz ist – dessen Intendant Josef E. Köpplinger unermüdlich seit Beginn seiner Intendanz im Jahre 2012 um die Aufführungsrechte gekämpft hat – bemerkt der aufmerksame Besucher sofort beim Betreten des Theaters: es fibriert, es liegt eine ganz besondere Spannung in der Luft. Und das Programmheft ist ein Novum, denn es ist – entgegen der sonst üblichen A5-Format Programme – nun groß im Format A4 gehalten und sehr hochwertig produziert. Inhaltlich wie gewohnt sehr informativ mit Hintergrundwissen aufbereitet, mit wunderbaren Fotos, ausführlicher Synopsis und den CV’s aller Kreativen und Darsteller, eine wahre Freude.
Ein weiterer Beleg für die Ausnahmestellung, die eine München-Premiere dieses herausragenden Musicals einnimmt, ist der Fakt, dass innerhalb kurzer Zeit nach Eröffnung des Kartenvorverkaufs im Dezember alle bislang in dieser Spielzeit anberaumten Shows bis auf den letzten Stehplatz restlos ausverkauft waren. Noch vor der Premiere!
Und eine weitere Randnotiz zur Besonderheit dieser Münchner Produktion: Es ist gute Tradition im Gärtnerplatztheater und wird vom Publikum dankbar angenommen, dass es das sogenannte „Premierenfieber“ (früher Einführungsmatinée) gibt, stets ca. zwei Wochen vor der tatsächlichen Premiere. Dauert eine Stunde, man wird von den Kreativen in den Entstehungsprozess mitgenommen, die Darstellenden zeigen einzelne Szenen und wenn man Glück hat – wie in diesem Fall so geschehen am 6. März – wird die Moderation des Ganzen vom kongenialen Christoph Wagner-Trenkwitz übernommen, seit zwei Jahren auch dem Theater als Dramaturg angehörig.
Seit Jahrzehnten ist Christoph Wagner-Trenkwitz der Garant für höchst profundes Musiktheaterwissen, das er in einer unglaublich unterhaltsamen Mixtur aus köstlichem Wiener Schmäh, einer großen Portion Selbstironie und Schlagfertigkeit zum Besten gibt. Dieses Premierenfieber zu ‚Les Misérables‘, noch nie zuvor dagewesen, sorgte für absolut bis zum letzten Stehplatz ausverkauftes Haus.
Und man durfte höchst amüsiert unter anderem folgendem Monolog des Moderators beiwohnen nach der Performance der mitreißenden Szene „Die Konfrontation“, dargeboten von Filippo Strocchi (Valjean) und Daniel Gutmann (Javert).
An den jungen, attraktiven Daniel Gutmann gewandt: „Daniel, steht Dir gut, das Javert-Mäntelchen. Ich hab mal im Vorfeld mich auf Deiner Website umgesehen und mir dann gedacht: Wenn der jetzt noch ein bissl schöner wär – so wie ich! – dann könnt‘ aus dem wirklich was werden“… ! Unerreicht, Herr Wagner-Trenkwitz! Riesengelächter im Publikum. Entertainment at it’s best.
Doch zurück zur München-Premiere. Ausführlich in der St. Gallen Kritik ist bereits alles zum Stückinhalt, zur grandiosen Ausstattung (Rainer Sinell), den Kostümen, der Maske, dem unglaublichen Licht-Design (Andreas Enzler und Josef E. Köpplinger), zur fabelhaften Soundaussteuerung (München: Tibor Adamecz) und, last but not least, zum 41 Personen fassenden punktgenau mit Verve aufspielenden Orchester – trifft alles selbstverständlich auch auf die Münchner Musiker zu – unter der Leitung von Maestro Koen Schoots dokumentiert worden.
Da es bei dieser Produktion Doppelbesetzungen der Hauptrollen gibt, lohnt es sich natürlich nunmehr, die durchweg herausragenden Leistungen aller beteiligten Künstler zu würdigen.
Die Premiere beginnt, bereits nach den ersten Tönen der Ouvertüre und des Prologs bildet sich ein Kloß im Hals ob der immensen emotionalen Wucht dieser Partitur. Gebannt verfolgt das Publikum, wie die Sträflinge im Steinbruch bis zum Zusammenbruch geknechtet werden, wie der Gefangene Jean Valjean herablassend vom Aufseher Javert informiert wird, dass er auf Bewährung entlassen wird, nach 19 Jahren. Und zugleich androht, dass er, Javert, „vergiss den Namen nicht“! Valjean weiterhin stets beobachten wird. Denn für Javert steht fest, dass sich ein einmal vom rechten Weg abgekommener Mensch niemals zum Guten ändern kann, das ist für ihn zementiert.
Der zerlumpte Bewährungssträfling denkt anfangs noch, er wäre jetzt frei, doch wird bald schmerzlich eines Besseren belehrt – er wird als Ausgestoßener behandelt, bekommt keine Arbeit, verzweifelt immer mehr.
Bis der großherzige Bischof Muriel von Digne (großartiger Bariton: Jeremy Boulton) sich seiner annimmt.
Armin Kahl als Jean Valjean nimmt mit in die Seelenqual der geschundenen Kreatur, man hängt an seinen Lippen. Bis es völlig unvorbereitet passiert, ca. zehn Minuten nach Beginn der Vorstellung: die so bekannte, stets prächtig geführte Stimme bricht in den Höhen weg. Mir schwant Arges, aus dem Augenwinkel sehe ich, wie in der Intendantenloge schräg über mir Regisseur Josef E. Köpplinger aus der Loge verschwindet. Die Show geht weiter, Armin Kahl hält tapfer durch, reagiert auch völlig geistesgegenwärtig, als die Küchentür zur Kaschemme der Thénardiers klemmt, er nimmt einfach mit der kleinen Cosette an der Hand einen Umweg außen rum, alles gut.
Dann, nach weiteren ca. zehn Minuten Spielzeit, sehe ich Armin Kahl als Jean Valjean zwar agieren, doch es ist nicht mehr seine eigene Stimme, die zu hören ist. Sondern die von Filippo Strocchi, der Doppelbesetzung des Jean Valjean. Und das so perfekt gemacht, dass es mit Sicherheit 98% der Zuschauer nicht aufgefallen ist.
Die Vorstellung treibt ihrem fulminanten Finale „Morgen schon“ zum Ende des ersten Akts entgegen. Vorhang, Pause.
Und Intendant Köpplinger tritt mit Mikro auf die Bühne und bittet um Aufmerksamkeit. Berichtet kurz, dass Armin Kahl von einem Virus befallen sei und seit ca. Mitte des ersten Akts gesanglich auf der Seitenbühne Filippo Strocchi für ihn übernommen hätte. Beide Valjeans kommen zu Köpplinger auf die Bühne, unter ohrenbetäubendem Applaus und Bravo-Rufen des Publikums. Der sichtlich geknickte Armin Kahl, wie arg für ihn, der sich seit über einem Jahr auf genau diesen Premierentag so sehr gefreut hatte, wird krankheitsbedingt unverzüglich nach Hause geschickt, Filippo Strocchi übernimmt zum zweiten Akt.
Die Gesundheit der Künstler geht vor, erklärt der Intendant. Ja, gut gemacht, ehrlich mit der Situation umgegangen, das Publikum voller Verständnis und hoher Anerkennung für das Einspringen Filippo Strocchis (der privat beim Abendessen saß, als er Anruf vom Intendanten bekam mit der Bitte, unverzüglich ins Theater zu kommen). Lediglich sieben Töne benötigte er schnell zum Einsingen, beeindruckend.
Höchster Respekt an dieser Stelle, was für ein Mut, was für ein Teamgeist!
Filippo Strocchi agiert als Valjean großartig im zweiten Akt. Überzeugt vollends sowohl darstellerisch als auch gesanglich.
Sehr zu Herzen gehend der Epilog, die Sterbeszene Valjeans, und wie er von den vor ihm verstorbenen Seelen Fantine und Eponine ins Licht geleitet wird. Wie schon in St. Gallen, beobachte ich das Kramen nach Taschentüchern, Räuspern, kullernde Tränen im Publikum. Man kann sich einfach dieser herzzerreissenden Szene nicht entziehen, völlig unabhängig davon, wie oft man sie schon gesehen hat.
Als Javert sorgt der junge Opernbariton Daniel Gutmann, seit 2019 festes Ensemblemitglied im Gärtnerplatztheater, für großen Eindruck. Ich erinnere mich daran, als ich seinerzeit erfahren habe, dass dieser Künstler den so wichtigen Gegenpart zu Jean Valjean, einen reinen Antagonisten, übernehmen wird, an meine Reaktion: Stimmlich wird das überwältigend werden, aber mag Daniel Gutmann nicht etwas zu jung für diese Rolle sein? Die Bedenken lösen sich sofort in Luft auf. Die erfahrenen Maskenbildner im Theater verstehen ihr Handwerk. Ebenso wie Valjean altert Javert im Lauf der bespielten Jahrzehnte, sein anfänglich schwarzer Schopf ergraut nach und nach, alles perfekt.
Wie Daniel Gutmann diesen lange Zeit so unerbittlich-strengen Charakter porträtiert, der letztlich an der Güte Valjeans zerbricht, ist überaus sehenswert. All seine zurechtgezimmerten Werte, an denen Javert Zeit seines Lebens sein Handeln ausgerichtet hatte, fallen zusammen wie ein Kartenhaus, als er Valjean mit dem schwerverletzten Marius geschultert ziehen lässt.
Ihm bleibt nichts mehr, er ist sprichwörtlich vollkommen leer. Ergo konsequent geht er in den Selbstmord, entledigt sich auf der Stahlbrücke seiner Schuhe, zieht den Mantel aus, löst seinen Zopf und stürzt sich viele Meter hoch kopfüber in die Seine. Ein atemberaubender Bühnenmoment.
Gesanglich ist dieser Javert-Part von Daniel Gutmann eine Offenbarung. Sein perfekt geführter Bariton geht tief unter die Haut und lässt einen wohlig erschauern. Besser geht nicht. Chapeau!
Wie bereits in St. Gallen erlebt, ist die Fantine von Wietske van Tongeren sehr, sehr berührend. Man leidet mit dieser jungen Frau, die unverschuldet in einen Abwärtsstrudel gerät und viel zu früh ihr Leben verliert.
Als Eponine, die Tochter der Thénardiers, überzeugt Katia Bischoff. Welche Stimmkraft aus diesem zierlichen Persönchen bei „Nur für mich“, als sie ihre unerfüllte Liebe zu Marius beklagt, herauskommt, ist höchst beeindruckend.
Wenn sie blutend in den Armen von Marius an der Barrikade stirbt, ist die Betroffenheit im Publikum fast greifbar.
Marius wird am Premierenabend von Florian Peters als Einspringer interpretiert, der ursprünglich vorgesehene Darsteller Matteo Ivan Rasic fiel krankheitsbedingt aus.
Bereits erfahren in der Rolle, ist Florian Peters ein liebenswert-naiver Marius, dem man die Schockverliebtheit in Cosette völlig abnimmt. Mit „Dunkles Schweigen an den Tischen“ interpretiert er einen der zahlreichen Hits des Stücks, langsam treten dabei aus dem nebelwabernden Bühnenhintergrund seine toten Studentenfreunde nach vorne, stimmig und doch so beklemmend inszeniert.
Cosette, die Ziehtochter Valjeans, wird von Julia Sturzlbaum mit klarem Sopran und der erforderlichen jung-liebreizenden Attitüde verkörpert.
Marius und Cosette sind die einzig Überlebendem im Stück und dadurch ein kleiner Hoffnungsschimmer auf eine doch bessere Zukunft.
Dagmar Hellberg (wie immer großartig) und Alexander Franzen sind das ordinär-verschlagene, mit reichlich krimineller Energie ausgestattete Wirtsehepaar Thénardier. Diese beiden Sidekicks sorgen mit ihrer unverschämt zur Schau gestellten Prolligkeit für angesetzte Lacher, die aber ob der unfassbaren Widerwärtigkeit dieser Charaktere zugleich im Halse steckenbleiben. Wie Thénardier als Leichenfledderer an den toten Studenten hantiert und in der Kanalisation sich an den vermeintlich ebenfalls toten Valjean und Marius vergreift, ist so abscheulich, dass hier die schauspielerische Leistung Alexander Franzens umso mehr zu loben ist.
Dann sind da noch die Kinder – der kleine Gavroche, pfiffiger Knirps mit Durchblick, zieht alle Blicke auf sich. Philipp Hopf zeigt großes Talent und es würde mich nicht wundern, ihn in einigen Jahren in jung-erwachsenen Rollen wieder auf der Bühne zu sehen.
Ebenso gut macht die kleine Cosette alias Ricarda Livenson ihre Sache.
Die Studenten mit Anführer Enjolras (Merlin Fargel) sind eine superbe Truppe höchst engagierter, die Ideologie der Freiheit lebende Charaktere.
Es tut weh, sie auf der Barrikade alle fallen zu sehen. Man kann hier nicht von einem Ensemble sprechen, denn ausnahmslos alle sind Solisten, mit herausragenden Stimmen und großen Schauspielherzen. Bravo!
Als Fazit bleibt nur anzumerken, dass dies mit die nachhaltig beeindruckendste Musicalproduktion ist, die ich in den letzten 30 Jahren gesehen habe. Riesenjubel im Publikum, sofortige stehende Ovationen, man möchte die Künstler nicht gehen lassen. Gratulation an alle Kreativen und Darstellenden, an das wunderbare Orchester, die dieses Juwel so zum Leben erweckt haben. Großer, aufrichtiger Dank an dieser Stelle.
Mein Sitznachbar, mit dem nettes Gespräch zustande kam, meinte, er und seine Familie hätten das Stück vor über 15 Jahren am Broadway gesehen. Und es wäre dort nicht ansatzweise so gut und beeindruckend gewesen, wie diese Premiere im Gärtnerplatztheater. Das lassen wir mal unkommentiert so stehen :-).
Eine Anmerkung zu den Show-Fotos: Diese wurden erstellt bei der zweiten Hauptprobe drei Tage vor der Premiere und weichen in Teilen von den hier besprochenen Darstellenden aufgrund der Solisten-Doppelbesetzungen ab.
Silvia E. Loske, März 2024
Premierenfeier, Vorstellung der Künstler:
Für die aktuelle Spielzeit bis Sommer 2024 sind, wie eingangs bereits erwähnt, alle Shows restlos ausverkauft, ABER, Achtung:
Cameron Mackintosh hat an Intendant Josef E. Köpplinger die Rechte für 2024 unter der Bedingung vergeben, dass mindestens 30 Shows gespielt werden müssen.
22 davon sind jetzt ja bekanntermaßen zwischen 22. März und 14. Juni restlos ausverkauft. Bleiben noch 8, die im Jahr 2024 gespielt werden müssen. Und hoffentlich noch viele weitere mehr … daher Augen und Öhrchen gespitzt, wann die weiteren Termine ab September 2024 bekanntgegeben werden und wann dann der Vorverkauf startet.
Infos: https://www.gaertnerplatztheater.de/de/produktionen/les-miserables.html
Trailer Gärtnerplatztheater:
Stückeinführungsvideo Gärtnerplatztheater:
Videos vom Schlussapplaus am Premierenabend (© Musical Reviews)
Alle Fotos von der Hauptprobe am 19.03.2024 und vom Premierenabend:
© Musical Reviews
Musical von Alain Boublil und Claude-Michel Schönberg, neue Fassung.
Nach dem Roman von Victor Hugo. Deutsche Übersetzung Heinz Rudolf Kunze
Kreative | |
Buch und Liedtexte | Alain Boublil, Jean-Marc Natel Herbert Kretzmer |
Musikalische Leitung | Koen Schoots |
Inszenierung | Josef E. Köpplinger |
Choreographie und Co-Regie | Ricarda Regina Ludigkeit |
Bühne | Rainer Sinell |
Licht | Andreas Enzler |
Kostüme | Uta Meenen |
Ton | Tibor Adamecz |
Choreinstudierung | Dovilé Siupenyté |
Dramaturgie | Michael A. Rinz., Chr. Schmidl |
Darsteller | |
Jean Valjean | Armin Kahl / Filippo Strocchi |
Javert | Daniel Gutmann |
Fantine | Wietske van Tongeren |
Cosette | Julia Sturzlbaum |
Eponine | Katia Bischoff |
Thénardier | Alexander Franzen |
Madame Thénardier | Dagmar Hellberg |
Marius | Florian Peters |
Enjolras | Merlin Fargel |
Gavroche | Philipp Hopf |
kleine Cosette | Ricarda Livenson |
Doppelbesetzungen: Filippo Strocchi,Jogi Kaiser, Carin Filipcic, Barbara Obermaier, Kristine Emde, Matteo Ivan Rasic Ensemble: Jeremy Boulton, Anna Katharina Felke, Evita Komp, Jacob Romero Kressin, Katharina Lochmann, Peter Neustifter, Leoni Kristin Oeffinger, Christian Schleinzer, Florine Schnitzel, Thijs Snoek, Michael Souschek, Meren Verhaegh. | |
Orchester unter der Leitung von Koen Schoots und Chor des Staatstheaters am Gärtnerplatz, München |