Produktion des Staatstheaters am Gärtnerplatz, Premiere 25. Februar 2016
“When the Moon is in the Seventh House and Jupiter aligns with Mars.
Then Peace will guide the Planets and Love will steer the stars.
This is the Dawning of the Age of Aquarius…”
Wer diese Anfänge des weltbekannten Hits hört, der weiß, dass wir uns zurück in den 68-ern befinden, der Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs, der Blumenkinder, Woodstock, Hippies, beginnenden Protestbewegungen, Auflehnung gegen das Establishment und Anti-Kriegs-Demonstrationen mit dem Statement Make Love Not War.
Fast 50 Jahre hat das „American Tribal Love-Rock Musical” nun schon auf dem Buckel, doch viele der im Stück, das ohne Libretto eine fragmentarische Ansammlung von losen Szenen darstellt, vorhandenen sozialkritischen Ansätze sind nach wie vor hochaktuell. Damals, als das Musical erstmalig in New York aufgeführt wurde und dann seinen Siegeszug in den Theatern der westlichen Welt feierte, sprach man von einem Skandalstück.
Bei der deutschen Erstaufführung in München im Oktober 1968 im damaligen Theater an der Brienner Straße mischten sich sogar Politik und Staatsgewalt ein, wollten ein Aufführungsverbot durchsetzen, da man die sittliche Moral gefährdet sah aufgrund der offenen Thematisierung von freier Liebe, Enttabuisierung von Sexualpraktiken, Drogenkonsum und generell dem Aufzug der Hippie-Kommune mit lang-wuchernden Haaren und buntwallenden Klamotten. Dies alles stellte einen Affront gegen das erzkonservative Spießbürgertum dar – und sorgte gerade deshalb für den Erfolg des Stücks. Dass obendrein sich in einer Szene auch noch alle Darsteller nackt ausziehen erregte im Vorfeld bereits ein tosendes Rauschen im Presse-Blätterwald und sorgte somit erst recht für Aufsehen – und oftmals ausverkaufte Vorstellungen.
Der vom renommierten Regisseur Milos Forman im Jahr 1979 inszenierte Kinofilm manifestierte den HAIR-Ruhm noch zusätzlich. Im Film bekamen die einzelnen Figuren ausgearbeitete Charaktere, auch entwickelte Forman eine Handlung, was im Musical noch nicht der Fall war.
Nun ist „HAIR“ erneut in München angekommen, das Team des Gärtnerplatztheaters gewann für die Regie den im deutschsprachigen Raum sehr renommierten Gil Mehmert, Melissa King zeichnet für die Choreographie verantwortlich. Aus dem „nicht vorhandenen Libretto“ bildet Gil Mehmert, angelehnt an den Kinofilm, ein stimmiges Stück mit logisch aufgebauten Dialogen, baut viele zeitgeschichtliche Figuren (Andy Warhol, Liz Taylor, Jackie Kennedy) und Geschehnisse ein: Ku Klux Klan Feiglinge tauchen ebenso auf wie ein Astronaut und der Schattenriß von Jimi Hendrix schleudert seine zu Ruhm gekommene Version des „Star-Spangled Banner“ auf der E-Gitarre ins Auditorium. Gesungen wird im englischen Original, die Dialoge sind in deutsch.
Für großes Amüsement sorgt völlig unerwartet und die nun mal überhaupt nicht in die Spielebene passende, aber dafür umso vergnüglichere „Vom Winde verweht“ Szene – Scarlett (Sheila) schmachtet den aus dem Sezessionskrieg heimkehrenden Ashley (Berger) mit den Originaldialogen an, passend unterlegt mit dem musikalischen Leitthema dieses Blockbusters.
Melissa Kings Choreographie hält das ganze Stück als Klammer zusammen, was das Ensemble hier tänzerisch leistet, ist aller Ehren wert. Vor allem im noch vermeintlich heiteren und unbeschwerten ersten Akt wirbeln die Akteure zu den großen Nummern wie Donna, Hair und Hare Krishna völlig entfesselt und so mitreißend herum, dass man am liebsten aufstehen und mitmachen möchte.
Maßgeblichen Anteil daran, dass man sich so hineingezogen fühlt in die Hippiewelt, haben die wunderbar authentischen Kostüme von Dagmar Morell und die großartige Leistung der zehnköpfigen Band unter der Leitung von Jeff Frohner. Die Musiker sind auf einem hohen Podest im Hintergrund der tiefen Bühne platziert, ebenfalls als Hippies gewandet und spielen Galt MacDermots mit unzähligen Hits bestückte Partitur einfach sensationell.
Für das Bühnenbild reichen Jens Kilian lediglich zwei seitlich angeordnete fahrbare Stahlkonstruktionen mit Strahlern, die an das legendäre Woodstock-Festival erinnern und von den Darstellern häufig zum Abhängen und darauf Herumklettern genutzt werden. Cannabisfelder wachsen aus dem Boden und man meint fast, die Marihuana-Schwaden in der Nase zu haben, wenn sich der Tribe verzückt-entrückt joint-bewehrt zu Walking in Space windet.
Das gekonnte Licht- und Videodesign trägt ebenso dazu bei, dass einem der Theaterabend in bleibender Erinnerung haften bleibt.
Wenn man im Musicalbereich von einem reinen Ensemblestück spricht, das von der sprühenden Energie aller Darsteller leben muss, dann ist eins dieser Stücke sicherlich „HAIR“. Drei Hauptrollen gibt es dennoch: Allen voran der charismatische Berger, der Anführer des Tribes. Dann die Studentin und Umweltaktivistin Sheila und selbstverständlich Claude, der vom Lande kommend in New York zum Tribe stößt und mit seiner Einberufung zur Armee und damit in den Vietnamkrieg den zentralen Handlungsstrang begründet.
Im zweiten Akt nimmt die Handlung deutlich an dramatischer Fahrt auf, immer enger zieht sich die unentrinnbare Schlinge um Claude, seine Hippiefreunde beschwören ihn, den Einberufungsbefehl zu verbrennen – es hilft alles nichts, Claude wird eingezogen, Soldaten anstelle der Hippieschar bevölkern nun die Bühne. Unausweichlich und grandios inszeniert treibt das Geschehen seinem beklemmenden Höhepunkt, dem sinnlosen Tod Claudes in Vietnam, entgegen. Viele feuchte Augen im Publikum begleiten die Schlussszene, wenn Claudes Hippiefreunde Blumen in die Stahlhelme der Gefallenen legen, wenn Claudes Eltern, in schwarze Mäntel gehüllt, inmitten des Tribe wie in Zeitlupe zum Grab ihres Sohnes gehen. Und dort angekommen ihre Mäntel ablegen, darunter Hippiekleidung tragend, ein spätes aber umso eindringlicheres Statement aufzeigend. Im Hintergrund intoniert Claude die Hymne des Stücks, Let the Sunshine in.
Seinen Konflikt, hin- und hergerissen zwischen einem vermeintlich einfachen im Sinne von Love, Peace und Happiness gewählten Dasein und andererseits seiner von den Eltern aufoktroyierten Verantwortung seinem Land gegenüber, stellt David Jakobs sehr glaubwürdig dar. Mit starker Stimme präsentiert er das rockige Manchester England, berührt zweifelnd mit Where do I go.
Als Claudes Gegenpol sehen wir Berger, dem Dominik Hees die richtige Mischung aus virilem Alphatier mit Machoanteilen verpasst. Beim treibenden I got Life wirbelt er kreuz und quer über die Bühne und reckt provokant dem Publikum sein entblößtes Hinterteil entgegen, ebenso begeistert er bei Donna mit toller Rockröhre und zwingender Bühnenpräsenz.
David Jakobs (Claude), Dominik Hees (Berger)
Der Studentin Sheila, aus gutem Hause stammend, verleiht Bettina Mönch starke Kontur. Ihre Stimme haut einen wirklich um, ihr Easy to be hard ist ein definitiver Showstopper und begeistert total. Bettina Mönch gehört einer von Gil Mehmerts eindringlichsten Momenten. Nackt, nur mit ihrer Gitarre in der Hand, harrt sie gegenüber der sie schlagstockbewehrt einkreisenden Polizeimacht als einzige des Hippie-Tribes mutig aus und mit vor Angst brüchig-erstickter Stimme intoniert sie dennoch tapfer ihr Credo I believe in Love. Ein wichtiger und großer Theatermoment ist hier gelungen, der beim Publikum den berühmten Kloß im Hals auslöst.
Apropos nackt: Die obligatorische Nacktszene wird hier anders, als in den meisten Inszenierungen, bei denen man diese Sequenz verschämt nur als aufgestellte Darstellerreihe kurz im Gegenlicht zeigt, angelegt. In der aktuellen Gärtnerplatztheaterversion ziehen sich die Hippies aus Protest gegen die von allen Seiten drohend näherkommenden Polizisten aus – dies ist eine wichtige dramaturgische Spielszene und wird von Darstellerseite sehr mutig, in vollem Vertrauen auf die Regie, umgesetzt.
An hervorzuhebenden Einzelleistungen sei noch Dagmar Hellberg zu nennen, die gleich zu Beginn des Stücks, wenn sie zusammen mit ihrem Partner als älteres, verloren wirkendes Hippiepaar in der Jetztzeit inmitten einer hektisch agierenden Business-Meute reichlich deplaziert erscheint, uns mit dem immer noch groovenden Aquarius zurück in die 68-er beamt. Und ebenso beeindruckend Christina Patten als ungewollt schwangere und sich über die Vaterschaft ihres ungeborenen Kindes im Unklaren befindliche Jeanie, die mit How I love my Hippie-Life ein stimmstarkes Ausrufezeichen setzt.
Nach dem gänsehauterzeugenden Showende entlädt sich die fast greifbare Anspannung in frenetischem Jubel, Getrampel, schier nicht endenwollender Begeisterung des Premierenpublikums, in welchem sich viele Künstlerkollegen und Theaterleute befinden. Auch dies ist eine charmante Besonderheit in der großen Gärtnerplatzfamilie: alle ziehen am gleichen Strang!
Nach dem Schlussapplaus ertönen nochmals die Hits der Show und in einem gelösten Happening tanzen Darsteller und Zuschauer gemeinsam zu Let the Sunshine in auf der Bühne. Um es mit den Worten eines lieben und geschätzten Künstlerfreundes zu sagen: SO MUSS THEATER!!
David Jakobs (Claude), Bettina Mönch (Sheila), Dominik Hees (Berger), Gil Mehmert (Regie)
Termine (noch bis 17. März 2016), Tickets und Informationen unter www.gaertnerplatztheater.de
Tolles Video zur Stückeinführung des Gärtnerplatztheaters hier:
https://youtu.be/6kxgmda_i0w
(Silvia E. Loske, Februar 2016)
The American Tribal Love-Rock Musical. Buch und Texte von Gerome Ragni und James Rado, Musik von Galt MacDermot |
Musikalische Leitung |
Jeff Frohner |
Regie |
Gil Mehmert |
Choreographie |
Melissa King |
Bühne |
Jens Kilian |
Kostüme |
Dagmar Morell |
Licht |
Michael Heidinger |
Dramaturgie |
Michael Otto |
Video |
Meike Ebert, Raphael Kurig |
Darsteller: |
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Berger |
Dominik Hees |
Sheila |
Bettina Mönch |
Claude |
David Jakobs |
Hud |
Victor Hugo Barreto |
Woof |
Lars Schmidt |
Jeanie |
Christina Patten |
Dionne/Huds Frau/The Supremes |
Dionne Wudu |
Crissy |
Ruth Fuchs |
Claudes Vater/Guru/Sergeant/General |
Frank Berg |
Claudes Mutter/Liz Taylor/Generalin |
Dagmar Hellberg |
Sowie: Amaya Keller, Anastasia Bain, Ben Cox, Eva Zamostny, Jane Reynolds, Janos Harot, Jens Olsen, Joana Henrique, Lara de Toscano, Marides Lazo, Michael B. Sattler, Nils Klitsch, Peter Knauder, Tamara Pascual, Yael de Vried, Vito Brown |
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Statisterie des Staatstheaters am Gärtnerplatz. 10-köpfige Band unter der Leitung von Jeff Frohner |