Deutschsprachige Erstaufführung, Produktion der Vereinigten Bühnen Wien im Theater Ronacher am 1. Oktober 2014
Opulente Zuckerguß-Familienunterhaltung
Wohl fast jeder kennt den Disney-Film mit Julie Andrews und Dick Van Dyke in den Hauptrollen aus dem Jahr 1964, der den Geschichten von P. L. Travers zugrundelag und seinerzeit erstmals spektakulär Zeichentrick mit menschlichen Filmfiguren mischte (was dem Vernehmen nach der Autorin so gar nicht zusagte…). 2004 kam der Stoff um das unkonventionelle, mit magischen Fähigkeiten ausgestattete Londoner Kindermädchen Mary Poppins dann auch auf die Musicalbühne und hat in den letzten zehn Jahren beachtliche 11,5 Millionen Zuschauer verzeichnet.
Nach längeren Verhandlungen, wie Intendant Christian Struppeck stolz berichtet, hatten sich die Vereinigten Bühnen Wien die deutschsprachigen Aufführungrechte sichern können. Mit großem technischem Aufwand brachte das VBW-Team nun dieses Märchen auf die Musicalbühne.
Zur Story:
Diese ist sicherlich hinlänglich bekannt, daher nur eine kurze Zusammenfassung: Im Londoner Kirschbaumweg 7 wohnt (wir befinden uns ca. im Jahr 1920) die Familie Banks. Der Vater ist Bankangestellter und bedient den Prototyp des steifen Engländers, dem nichts mehr zuwider ist als Empathie. Seine Frau Winifred ist mit allem heillos überfordert – mit den an sie gestellten Anforderungen ihres Gatten, dem Haushalt und vor allem den beiden ziemlich ungezogenen Gören Jane und Michael. Das liebste Hobby der beiden Letztgenannten ist es, durch ihr nervtötendes Verhalten alle Kindermädchen in die Flucht zu schlagen, die bei Familie Banks in Diensten stehen. Die beiden Hausangestellten Mrs Brill (Köchin) und Robertson Ay (Hausdiener) komplettieren die Bewohner des besagten Hauses.
Gerade, als wieder einmal ein Kindermädchen empört von dannen zieht, taucht Mary Poppins auf. Reichlich selbstbewusst von sich eingenommen verkündet diese, dass sie fortan Ordnung in das Bank’sche Leben bringen werde, Zeugnisse und Referenzen ihrer vorherigen Dienststellen bedürfe es dazu nicht. Sie geht forsch zu Werke und verdient sich rasch, nicht zuletzt mittels einiger Zaubereien, den Respekt der Banks-Sprößlinge. Der Schornsteinfeger Bert begleitet Mary wohl schon länger, von ihm wird die Handlung zwischendurch kommentiert. Nach einigen Abenteuern und Verwicklungen (zwischendurch verlässt Mary Poppins Knall auf Fall die Familie, kehrt dann aber wieder zurück) wendet sich – natürlich, es ist ja ein Märchen! – alles zum Guten. Vater Banks, der sich bereits arbeitslos wähnte, wird vom Bankdirektor befördert und sieht ein, dass nichts wichtiger ist als Frau und Kinder, Mutter Winifred geht nun vollends in der Familie auf und legt ihre früheren Ambitionen als Schauspielerin endgültig ad acta, die Kinder haben dank Mary gelernt, Rücksicht und Mitgefühl zu entwickeln. Mary’s Werk ist vollbracht und so entschwebt sie in den Londoner Abendhimmel und macht sich auf zu neuen Taten bei einer anderen Familie, die ihrer unkonventionellen Unterstützung bedarf.
Die Frage, die sich die meisten Premierengäste im Wiener Ronacher stellten, war: Wie werden die wohl die vielen Tricks aus dem Film auf der Bühne umsetzen? Nun, dies darf als überaus gelungen angesehen werden. Einige nette Effects präsentiert man dem dankbaren Premierenpublikum, etwa wenn z. B. das eben neu angekommene Kindermädchen im Kinderzimmer aus ihrer übersichtlichen Reisetasche gar wunderliche Dinge zum Vorschein bringt, wie einen mannshohen Garderobenständer, eine ziemlich große Topfpflanze und umfangreiches Bettzeug. Wie von Zauberhand kommt plötzlich ein Bett aus der rechten Wand gefahren, das rätselhafte Kindermädchen schwebt die Treppe empor, in der zuvor demolierten Küche fügt sich alles wie von Zauberhand wieder zusammen, usw.
Am besten funktioniert die Show immer dann, wenn opulente Ensemblenummern stattfinden. Zwei Showstopper gibt es – diese sind zum einen Supercalifragilistic… – das Publikum wird zum Mitmachen aufgefordert und kommt diesem Ansinnen mehr als bereitwillig nach.
Zum anderen die sicherlich beste Ensemblenummer: Schritt für Schritt, das enorm schwungvolle Kaminkehrer-Ballett. Dabei wird gesteppt, dass die Bühne bebt, das hat Pfiff.
Dass bei dieser letzteren Ensembleszene auch noch die atemberaubend akrobatische Performance von Bert mit eingebaut ist, wertet diese Sequenz noch weiter auf. Mit ungläubigem Staunen und Jubel verfolgt das Publikum, wie Bert aufrecht stehend und gehend rechts am Bühnenrand hochmarschiert, oben am Bühnenrand angekommen dann auch noch quer kopfüber und weiter singend zum linken Bühnenrand geht, um von dort wieder aufrecht gehend herabzumarschieren. Was für ein wunderbar einfallsreicher und genial umgesetzter Special Effect! Da wir gerade beim Thema sind: Natürlich fliegt Mary Poppins auch – und das lösen die Creatives der VBW ganz vorzüglich. Bereits während der Show erhebt sich die Titelfigur mehrmals in die Lüfte, doch der größte Staun-Effekt ist natürlich, wenn am Ende Mary Poppins mit aufgespanntem Schirm in der einen und Tasche in der anderen Hand als Farewell von der Bühne empor und dann quer über die Zuschauerköpfe des Parketts zum Rang entschwebt.
Doch das Stück hat schon auch so einige Längen, gerade in den häufigen Erziehungsszenen mit den Kindern schleicht sich bald so etwas wie Langeweile ein, da merkt man deutlich, dass das Buch doch an einigen Stellen ziemlich flach ist.
Am Bühnenbild kann es nicht liegen, dass die Show nicht zu hundert Prozent zündet – dies ist sehr opulent und bunt, hier wurde ganze Arbeit geleistet. Die vielfältigen Szenenwechsel (Innenansicht des Bank’schen Hauses, Kinderzimmer, Küche, Parklandschaft mit zum Leben erweckten Steinfiguren, die Dächer von London, etc.) funktionieren reibungslos, ein Rädchen greift unsichtbar ins andere. Die Kostüme sind sehr detailverliebt ausgearbeitet, die Lichtregie ist stimmig und der Sound bis auf wenige Ausnahmen am Premierenabend soweit in Ordnung, dass man den Großteil der gesprochenen und gesungenen Texte versteht.
Die Partitur verfügt über drei Ohrwürmer, die jeder schonmal gehört hat: Das wunderbare Chim Chim Cher-I (seinerzeit ein Riesenhit), das schwungvolle, zungenbrecherische Supercalifragilisticexpialigotisch und natürlich auch Mit nem Teelöffel Zucker. Die weiteren Songs sind relativ belanglos.
Es handelt sich um eine sicherlich gute Inszenierung in Wien. Allerdings – und das bietet sich ja nachgeradezu an als direkter Vergleich (Familienmusical mit den gleichen Komponisten, erfolgreicher Film aus den Sechzigern als Basis, vergleichbare Story mit einem Mädchen samt jüngerem Bruder im Focus, gleiches Spieljahrzehnt) – zeigte doch die ein halbes Jahr zuvor aufgeführte „Tschitti Tschitti Bäng Bäng“-Inszenierung von Josef E. Köpplinger in München (siehe hierzu Kritik bei Musical Reviews) – im Übrigen auch staatlich subventioniert, wie die Stücke der VBW – weitaus mehr Drive. In Wien fliegt das Kindermädchen, in München fliegt ein Auto samt Insassen. Und mit mehr als 100 Leuten auf der Bühne kam das Münchner Publikum aus dem Staunen und Jubeln gar nicht mehr heraus. Nur rund ein Dutzend Aufführungen von der letztgenannten Produktion wurden in München gezeigt, und was für ein Riesenaufwand dafür getrieben wurde, ist höchst bemerkenswert – wie gesagt, all dies im Vergleich zur Ensuite-Produktion der VBW in Wien.
Man fühlt sich bei „Mary Poppins“ zwar ausreichend gut unterhalten, mehr aber nicht. Woran mag es gelegen haben, dass einen das Stück nicht wirklich komplett erreicht hat? An der doch eher altbackenen Geschichte, an einer Hauptdarstellerin, die zwar „perfekt und völlig ohne Fehler“ aber dennoch unnahbar bleibt, oder ist es lediglich der Tatsache geschuldet, dass weit hinten im Parkett der Zauber einfach nicht so ankommt, wie dies möglicherweise weiter vorne der Fall wäre?
Die Darsteller geben ihr Bestes, allerdings sind halt doch manche Charaktere schon sehr eindimensional gestrickt und lassen somit den Künstlern wenig Raum, all ihre Stärken zu präsentieren. Am auffallendsten ist dies bei der wunderbaren Milica Jovanovic als Mutter Winifred Banks. Fast schon nervig ist ihr ständiges devotes „Schatz“-Getue ihrem drögen Ehemann gegenüber. Mit nur einem Solo, das sie natürlich souverän mit kristallklarer Stimme darbietet, ist die Darstellerin auch weit unter Wert eingesetzt.
Reinwald Kranner gibt rollendeckend den besagten Familienvater, der sich größtenteils von seiner Familie belästigt fühlt und mit dieser eigentlich wenig bis gar nichts zu tun haben will. Seine Läuterung gegen Ende des Stücks ist etwas konstruiert, muss aber natürlich so sein, damit es zu einem Happy End kommt.
Die beiden Kinder, die Rollen sind jeweils vierfach besetzt, am Premierenabend standen Fiona Bella Imnitzer und David Paul Mannhart auf der Bühne, leisten Großartiges. Sie sind fast durchgehend präsent und haben eine Unmenge von Text zu bewältigen. Hut ab!
Die Hausangestellten Mrs Brill (Tania Golden, verschroben das Haus-Regiment führend) und Robertson Ay (Niklas Abel, als tumbe Knallcharge) sowie die frühere Gouvernante Miss Andrew (Maaike Schuurmans, in Kostüm und Maske nicht wiederzuerkennen, der Inbegriff eines gefürchteten Drachens) machen allesamt ihre Aufgabe gut.
Der größte Sympathieträger der Hauptrollen ist der Rauchfangkehrer (österreichisches Idiom, wenn man es genau nehmen will, wäre das umgangssprachliche „Raupfenkehrer“ noch passender gewesen) Bert alias David Boyd. Der gebürtige Schotte tanzt und steppt fulminant, singt adäquat und spielt den liebenswerten Schornsteinfeger und Maler (er hat offensichtlich gleich mehrere Berufe) mit schelmischem Augenzwinkern ganz vorzüglich.
Für die Titelfigur Mary Poppins verpflichteten die VBW nach ihrer langjährigen Hauptrolle in „Elisabeth“ erneut die Holländerin Annemieke van Dam. Optisch ist sie einfach die perfekte Mary Poppins: Großgewachsen, schmal, attraktiv und mit der für die Rolle erforderlichen kerzengeraden Haltung samt ausgestellter Ellbogen und akkurater Fußstellung überzeugt sie, ebenso ist sie stimmlich genau passend und bewältigt ihren Part mühelos. Besonders hervorzuheben ist, dass die Künstlerin in diesem Stück auch tanzen und steppen muss – dies tut sie in den großen Ensembleszenen synchron und ohne Tadel. Schauspielerisch agiert sie dem Charakter und der Epoche entsprechend würdevoll, jedoch fehlt im Zusammenspiel mit den Kindern das gewisse Etwas an Wärme. Dass das zauberhafte Kindermädchen nicht nur liebenswürdig, sondern auch ganz schön biestig sein kann, wie bei ihrem Einwurf „spielt die Kanalisation verrückt, oder hat Mrs Brill das Essen auf dem Herd?“ verpufft leider am Premierenabend, der Gag zündet nicht richtig.
„Mary Poppins“ ist für eine Spielzeit von einem Jahr angesetzt und wird wohl ein Erfolg für die VBW werden. Das Stück eignet sich für komplette Schulklassen und Familien mit Kindern – was der Smartphone und Internet abhängige Nachwuchs dann allerdings mit Aussagen wie „mit nem Teelöffel Zucker schmeckt jede Medizin“ oder „alles ist möglich, wenn man es nur wirklich will“ tatsächlich anfangen kann, bleibt abzuwarten.
Im Premieren-Gewühl gesichtet (Aufzählung ohne Anspruch auf Vollständigkeit): Die Musicaldarsteller Andreas Bieber, Uwe Kröger, Felix Martin, Marjan Shaki, Lukas Perman, Daniel Große Boymann, Roberta Valentini, Robert D. Marx, Carin Filipcic, Sigrid Hauser, Julian Looman, Linda Geider, Michael Heller, Ramesh Nair, Harald Serafin, Pierre Damen, Andreas Wanasek, Fredrik Andersson, Ana Milva Gomes, Dagmar Koller, Gernot Kranner. Sowie Josef E. Köpplinger (Staatsintendant Gärtnerplatztheater München), Peter Weck, Lotte Ledl, Cameron Mackintosh (Produzent).
Tickets, weitere Informationen sowie viele schöne Produktionsfotos gibt es unter
http://www.musicalvienna.at/index.php/de/spielplan/production/159107
(Silvia E. Loske, Oktober 2014)
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Alle Rechte dieser Fotos liegen ausschließlich bei Musical Reviews.
Musical von Richard und Robert Sherman (Musik und Gesangstexte), zusätzliche Lieder von George Stiles und Anthony Drewe, Buch von Julian Fellowes basierend auf den Geschichten von P. L. Travers und dem gleichnamigen Walt Disney-Film. Uraufführung 2004 in London. Originalproduktion Cameron Mackintosh in Zusammenarbeit mit Disney Theatrical Productions. Deutsche Liedtexte von Wolfgang Adenberg und Ruth Deny |
Musikalische Leitung |
Koen Schoots |
Regie |
Anthony Lyn |
Choreographie |
Goeffrey Garratt |
Bühne |
Rosalind Coombes, Matt Kinley |
Kostüme |
Christine Rowland |
Sound |
Ed Clarke, Mercel Kroese |
Licht |
Aaron Spivey |
Darsteller: |
|
Mary Poppins |
Annemieke Van Dam |
Bert |
David Boyd |
Michael Banks |
David Paul Mannhart |
Jane Banks |
Fiona Bella Imnitzer |
George Banks |
Reinwald Kranner |
Winifred Banks |
Milica Jovanovic |
Mrs Brill |
Tania Golden |
Miss Andrew |
Maaike Schuurmans |
Admiral Boom / Generaldirektor |
Dirk Lohr |
Robertson Ay |
Niklas Abel |
Vogelfrau |
Sandra Pires |
Sowie: Yves Adang, Gregory Antemes, Christopher Bolam, Heather Carino, Petra Clauwens, Kristina Da Costa, Angelo Di Figlia, Christian Graf, Lisa Habermann, Lucy Harrison, Esther Hehl, Tobias Losert, Anais Lueken, Maximilian Mann, Kudra Owens, Kevin Perry, Patrick Robinson, Gernot Romic, Mariana Souza, Johan Vandamme, Emma Hunter (Dance Captain), Jo Lucy Rackham, Samantha Turton, Joseph Dockree, Christian Louis-James, Jan-Eike Majert. Es spielt das Orchester der Vereinigten Bühnen Wien unter der Musikalischen Leitung von Koen Schoots. |